Innovation & Forschung

Tierversuche sollen überflüssig werden

Tierversuche haben nach Ansicht von Fachleuten die Entwicklung von Covid-19-Impfstoffen beschleunigt. Kritiker bestreiten dies. Generell gelten strenge gesetzliche Einschränkungen für Tierversuche. Das Beispiel Merck zeigt, wie ein Unternehmen verantwortlich Tiere für medizinische Tests nutzt und parallel an der Entwicklung alternativer Verfahren arbeitet.

11.10.2022

Tierversuche sollen überflüssig werden

Etwa 4,7 Millionen Tiere wurden nach vorläufigen Daten des Deutschen Zentrums zum Schutz von Versuchstieren (Bf3R) voriges Jahr in Deutschland für Tierversuche verwendet. Bestätigt sich diese Prognose, entspräche dies einem Rückgang gegenüber 2020 um mehr als eine Million Versuchstiere.

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Grundsätzlich sind Tierversuche laut Tierschutzgesetz nur dann erlaubt, wenn es keine alternativen Möglichkeiten gibt. Anwendung finden sie unter anderem noch in der wissenschaftlichen Grundlagenforschung und bei medizinischen Entwicklungen.

Verträglichkeit von Impfstoffen wird an Tieren getestet

Auch in der Impfstoffentwicklung sind Verträglichkeitsprüfungen an Tieren vorgeschrieben. Erst danach dürfen Wirkstoffe am Menschen erprobt werden. So gab es in den ersten eineinhalb Jahren der Corona-Pandemie in Deutschland nach Angaben des Bf3R circa 100 Forschungsprojekte zur Entwicklung von Covid-19-Impfstoffen. Dafür wurden rund 60.000 Tiere genutzt. Organisationen wie das US-amerikanische National Institute of Allergy and Infectious Diseases stellen heraus, dass die schnelle Entwicklung der Covid-Vakzine ohne die bereits existierenden und in Tierversuchen abgesicherten Forschungsergebnisse zum Coronavirus und zu Impfstoffen nicht möglich gewesen wären.

Dagegen meinen Tierversuchsgegner, dass gerade die schnelle Entwicklung der Covid-Impfstoffe beweise, dass Tierversuche unnötig sind. Eine aktuelle niederländische Studie habe gezeigt, dass der Biontech-Impfstoff deshalb so schnell entwickelt wurde, weil „die Anzahl der durchgeführten Tierversuche reduziert wurde, Studien mit Menschen bereits vor den Tierversuchen begannen und mehr tierversuchsfreie Methoden verwendet und akzeptiert wurden“, sagt der Verein „Ärzte gegen Tierversuche“.

3R-Prinzip: Sind Tierversuche wirklich unersetzlich?

Zur Beurteilung, ob konkrete Tierversuche vertretbar sind oder nicht, hat sich der 3R-Ansatz aus dem Jahr 1959 durchgesetzt. Die Kriterien werden mit den englischen Wörtern Refine, Replace und Reduce beschrieben. Wer Tierversuche durchführen möchte, sollte also von Anfang an prüfen, ob die Versuchsmethode verbessert werden, der Einsatz von Tieren reduziert oder gar durch eine andere Methode ersetzt werden könnte. Durchgesetzt habe sich dieses Konzept ab den 1970er-Jahren, schreibt das vom Verband der forschenden pharmazeutischen Firmen der Schweiz betriebene Portal Biotechlerncenter.

Diesen Grundsätzen fühlt sich auch Merck verpflichtet. Das Wissenschafts- und Technologieunternehmen hat den 3R-Ansatz in Anlehnung an Forschungsergebnisse der US-amerikanischen Philosophen David DeGrazia und Tom L. Beauchamp sogar erweitert und spricht vom 4R-Prinzip. Zu den genannten Prinzipien kommt noch der Punkt Responsibility hinzu, die Verantwortung für das Wohl der Tiere, die intern oder im Auftrag des Unternehmens genutzt werden. Kerstin Kleinschmidt-Dörr, Leiterin Corporate Animal Affairs bei Merck, sagt dazu: „Unser Ziel ist es, unseren Einsatz von Tieren durch alternative Methoden zu ersetzen, die ohne die Verwendung von Tieren auskommen. Bis dahin sind wir bestrebt grundsätzlich die höchsten ethischen Maßgaben und Tierschutzstandards für die Haltung und tierärztliche Betreuung aller Tiere einzuhalten, die für unser Unternehmen und in unseren eigenen Tierhaltungen genutzt werden.“

4R mit Award und Aktionstag in der Unternehmenskultur verankern

Merck will das Thema 4R in der Unternehmenskultur verankern. Dazu hat die Unternehmenseinheit „Corporate Animal Affairs“ ein eigenes 4R-Team gebildet, das verschiedene Aktionen initiiert hat. Bei einem jährlichen 4R-Tag wird beispielsweise über die Tierschutzstrategie informiert. Bereits seit einigen Jahren wird ein Tierschutzpreis an Mitarbeiter des Unternehmens vergeben. Damit werden alle zwei Jahre für jeden 4R-Teilbereich Praxisbeispiele sowie innovative Ideen gewürdigt. Der erste Platz ist mit 10.000 Euro dotiert.

Im Jahr 2022 wurden gleich zwei Gesamtsieger gekürt, nämlich die Gewinnerbeiträge der Kategorien „Replacement“ und „Reduction“. So gewann Sarah Sheridan mit einer tierfreien Alternativmethode zum Nachweis viraler Verunreinigung in Impfstoffen und anderen biologischen Materialien, die gespritzt werden. Bislang waren dazu Versuche mit Meerschweinchen nötig. Janmeet Anant and Monica Cardona wiederum überzeugten mit einem Verfahren, um die – gesetzlich vorgeschriebene – Biokompatibilität von Kunststoffen im Reagenzglas tierversuchsfrei zu testen.

Langfristig will Merck komplett auf Tierversuche verzichten und führend in der Anwendung alternativer Testmethoden werden. Bis auf Weiteres sei das Arbeiten mit Tieren allerdings unverzichtbar und gesetzlich vorgeschrieben, schränkt das Unternehmen ein. Der medizinische Fortschritt beruhe vielfach auf Forschungen mit Tieren. Laut Nachhaltigkeitsbericht 2021 nutzte Merck in diesem Jahr rund 180.000 Tiere für wissenschaftliche Zwecke. Tierversuche gab es in den Unternehmensbereichen Life Science, Healthcare und Electronics. Zu über 95 Prozent wurden dafür Nagetiere genutzt. Knapp 90 Prozent der Versuche fanden in eigenen Tierhaltungen statt.

Merck verpflichtet sich zu Transparenz und Einhaltung der höchsten Standards

Eine eigene Tierschutzrichtlinie bildet bei Merck die Grundlage für den Umgang mit Tieren. Mit der „Merck Animal Science and Welfare Policy“ verpflichtet sich der Konzern zur Einhaltung von höchsten ethischen und Tierwohlstandards bei der Unterbringung, Haltung und tierärztlichen Betreuung aller Tiere und geht dabei insbesondere für Nicht-Nager-Spezies über die lokal gesetzlich geforderten Standards hinaus. So werden auch in Ländern außerhalb der EU für Großtiere wie Primaten, Hunde und Schweine aber auch für Kaninchen die strengen europäischen Haltung- und Tierpflegestandards angewendet. Um außerdem größtmögliche Transparenz sicherzustellen, gehört Merck zu den Unterzeichnern der Initiative Transparente Tierversuche.

Ein konzernübergreifendes „Group Animal Welfare Council“, welches direkt der Vorsitzenden der Geschäftsleitung von Merck unterstellt ist, hat den Lenkungsauftrag für alle Tierschutzaktivitäten. Die operative Einheit „Corporate Animal Affairs“ verantwortet deren Implementierung in allen Unternehmensbereichen. Letztere auditiert alle drei Jahre die Merck-eigenen Tierhaltungsanlagen und beaufsichtigt alle im Unternehmen durchgeführten Tierversuche. 2021 wurden außerdem knapp 60 Geschäftspartner und Auftragnehmer überprüft, die mit Tieren arbeiten. Dabei evaluiert Merck unter anderem, ob alle Tierhaltungen dem Anhang des Europäischen Übereinkommens zum Schutz von Wirbeltieren zu Versuchs- und anderen wissenschaftlichen Zwecken (ETS123) sowie den unternehmenseignen, über das gesetzlich vorgeschriebene Maß hinausgehenden, Regelungen entsprechen. Auch Zulieferfirmen und externe Unternehmen in der Merck-Lieferkette, die Tiere nutzen, müssen die Einhaltung dieser einschlägigen Vorschriften garantieren und darüber hinaus die Merck-Tierschutzstandards anerkennen. Außerdem verfolgt das Unternehmen den Ansatz, sozial lebende Tiere artgerecht in Gruppen zu halten.

Die Thestmethode PyroMAT hat deutliche Vorteile gegenüber aktuellen Pyrogen-Testmethoden.
Die Thestmethode PyroMAT hat deutliche Vorteile gegenüber aktuellen Pyrogen-Testmethoden.

Merck-Forschung zu Alternativverfahren

Zu den Bereichen in denen Merck an Alternativmethoden für Tierversuche forscht, gehört etwa die Organ-on-a-chip-Technologie und inzwischen auch – gemeinsam mit dem israelischen Weizman-Institut – die Forschung an Human-on-a-chip-Technologien. Dabei handelt es sich um Biochips, die Organe beziehungweise den menschlichen Organismus simulieren können. Bereits fertig entwickelt und in internationalen Richtlinien anerkannt ist die alternative Testmethode PyroMAT. Mit dem Testkit werden pharmazeutische Produkte „in vitro“ auf fiebererzeugende Stoffe getestet. Die bislang üblichen Tierversuche mit Kaninchen werden damit überflüssig. Auch der sogenannte Limulustest, eine Alternativmethode bei der das Blut des Pfeilschwanzkrebses eingesetzt wird, kann durch PyroMAT ersetzt werden. Der Test hatte diese Spezies beinahe ausgerottet.

Weit anerkannt sind auch die Forschungen von Merck zu synthetischen Alternativen zum fötalen Kälberserum, die aus dem Blut von Rinder-Föten gewonnen werden. Mit diesen Substanzen werden Zellkulturen versorgt, weil darin eine Vielzahl unterschiedlicher Nährstoffe, Wachstumsfaktoren, Antikörper und Hormone vorhanden ist (UmweltDialog berichtete zu In-vitro-Fleisch). Ziel ist es, Produkte zu entwickeln, die auf die Verwendung jeglicher Bestandteile aus dem Tier verzichten und sogar besser und robuster in Zellkulturtest funktionieren als das hochvariable Tierserum.

Quelle: UmweltDialog
 

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