Lebensmittel

Ist In-vitro-Fleisch eine nachhaltige Alternative?

Beim Essen geht es nicht nur um Geschmack. Nachhaltigkeit und ethische Aspekte spielen eine zunehmend wichtigere Rolle. Das gilt gerade bei Fleisch. Beim Wissenschafts- und Technologieunternehmen Merck entwickelt man deshalb Technologien für die Produktion von „In-Vitro-Fleisch“. Kommt die Fleisch-Alternative in Zukunft aus dem Labor?

26.05.2021

Ist In-vitro-Fleisch eine nachhaltige Alternative?

Sind Sie auch Flexitarierin oder Flexitarier und verzichten gelegentlich bewusst auf Fleisch? Denn das tun hierzulande immer mehr Menschen, wie aus dem aktuellen Ernährungsreport des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) hervorgeht. Auch die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung meldete jetzt, dass der Pro-Kopf-Verzehr von Fleisch 2020 weiter gesunken ist und so niedrig liegt wie nie zuvor seit Beginn der Berechnungen. Gleichzeitig werden pflanzliche Fleisch-Alternativen immer beliebter. Das hat laut BMEL-Report verschiedene Gründe.

Drei Viertel der Menschen, die im Supermarkt zu solchen Ersatzprodukten greifen, sind einfach neugierig. 48 Prozent tun dies aus Tierschutzgründen und 41 Prozent, weil es gut für das Klima ist. Weniger Fleisch ist für 79 Prozent der Befragten zudem eine Antwort auf die Frage, wie wir in Zukunft die Ernährung einer wachsenden Weltbevölkerung sichern können. Ganz neuen Lösungen – wie Lebensmittel aus Insekten und In-vitro-Fleisch – stehen vor allem Jüngere zwischen 14 und 29 Jahren aufgeschlossen gegenüber.

In-vitro-Fleisch-Branche boomt

An der Produktion von In-vitro-Fleisch, auch Cultured Meat genannt, wird intensiv geforscht. Als Pionier gilt der niederländische Universitätsprofessor Mark Post (hier geht es zum Video), der 2013 den ersten Burger aus der Petrischale vorstellte. Die Kosten für die Herstellung eines kultivierten Burgers lagen seinerzeit noch bei über 250.000 Euro.

Der Mosa Meat Burger aus dem Labor.

Seitdem hat sich viel getan: Um In-vitro-Fleisch in großem Maßstab und damit kostengünstig zu produzieren und zu vermarkten, wurden rund um den Globus Start-ups gegründet. Allen voran Unternehmen aus den USA und Israel. Aus Europa kommt die von Mark Post mitgegründete niederländische Firma Mosa Meat. Seit 2018 ist hieran auch das Darmstädter Wissenschafts- und Technologieunternehmen Merck über seinen Corporate Venture Fund M Ventures beteiligt. Merck versteht sich als technologischer Wegbereiter und will die Branche mit seinen Kenntnissen und Erfahrungen voranbringen. Derzeit sei zwar noch weitere Forschung notwendig, heißt es vonseiten des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT), aber immerhin hat Singapur als erster Staat im Dezember 2020 den Verkauf von gezüchtetem Laborfleisch für Verbraucher zugelassen.

Prozess zur Herstellung von In-vitro-Fleischzoom

Zukunftsperspektive: In-vitro-Fleisch ohne tierisches Material

In-vitro-Fleisch wird aus Muskelstammzellen entwickelt, die zuvor einem Tier durch eine Muskelbiopsie entnommen wurden. Diese sei für das Tier nur geringfügig schmerzhaft, erklärt Arianna Ferrari aus dem KIT-Forschungsteam. Die anschließende Kultivierung und Vermehrung der Zellen in einem Nährmedium ist da aus tierethischer Sicht schon problematischer: Das Nährmedium beinhaltet heute noch in den meisten Fällen fötales Rinderserum (FBS), das aus ungeborenen Kälbern gewonnen wird. In diesem Nährmedium entwickeln sich die Stammzellen zu Muskelzellen und dann zu Muskelfasern. Rund 20.000 dieser Muskelfasern wurden benötigt, um den ersten Burger-Patty aus Rinderstammzellen zu formen.

Doch bei den finalen Produkten, die in breiter Masse auf den Markt kommen sollen, will man künftig ohne FBS auskommen. Bei Merck beispielsweise arbeiten Wissenschaftler bereits an Formulierungen für effiziente und kostengünstige Zellkulturmedien, die kein tierisches Material enthalten. Die Motive beschreibt Thomas Herget, Leiter des Silicon Valley Innovation Hubs des Unternehmens, so: „Dieser Paradigmenwechsel erfolgt zum einen aus ethischen Gründen, zum anderen ist FBS teuer und würde es unmöglich machen, kultivierte Fleischerzeugnisse zu einem erschwinglichen Preis anzubieten.“ So machten die Zellkulturmedien aus FBS derzeit 50 bis 80 Prozent der Marginalkosten in der Produktion aus. Sollte man in Zukunft tatsächlich ohne tierisches Material auskommen, müssten für die Produktion von In-vitro-Fleisch keine Tiere sterben, eine Massentierhaltung wäre überflüssig – so die Vision. Hergets Team arbeitet mit dem Merck Innovation Center und in enger Kooperation mit dem Life-Science-Bereich an Innovationsprojekten, die eine sichere und hochskalierte Produktion von kultiviertem Fleisch ermöglichen sollen.

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Chancen und Risiken

Diskutiert werden im Zusammenhang mit Cultured Meat auch die dahinterliegenden ethischen Fragen nach Tierschutz, der Tier-Mensch-Beziehung oder der Ernährungsfrage angesichts einer weiter wachsenden Weltbevölkerung: Auch hier kann kultiviertes Fleisch von Nutzen sein. Da es bei der Herstellung von In-vitro-Fleisch kaum Kontakt zu Tieren gibt, besteht zudem ein geringeres Risiko für Zoonosen (zwischen Tier und Mensch übertragene Infektionskrankheiten). Darüber hinaus kann kultiviertes Fleisch mit zusätzlichen Nährstoffen angereichert werden und sich so positiv auf die Gesundheit auswirken. Offen ist allerdings, ob der übermäßige Konsum von In-vitro-Fleisch ähnliche gesundheitliche Folgen hat wie der übermäßige Konsum von herkömmlichem Fleisch.

Unter Klimagesichtspunkten könnte In-vitro-Fleisch ebenfalls Vorteile gegenüber konventionell produziertem Fleisch haben. Das zeigt eine aktuelle Studie des niederländischen Forschungs- und Beratungsunternehmens CE Delft mit Unterstützung des Good Food Institutes. Die Studie basiert auf dem Szenario, dass bei der Produktion nur erneuerbare Energien verwendet werden. Die Autoren errechnen, dass sich der Anteil, den die Fleischproduktion an der Erderwärmung hat, durch Cultured Meat deutlich verringert, und zwar: um 17 Prozent bei Hühnerfleisch, um 52 Prozent bei Schweinefleisch und um bis zu 92 Prozent bei Rindfleisch – selbst, wenn von einer möglichst klimaschonenden Tierhaltung ausgegangen wird. Weitere Studien gehen zudem davon aus, dass die Produktion von In-vitro-Fleisch im Vergleich zu herkömmlichem Fleisch weniger Flächen nutzt und einen geringeren Wasserverbrauch hat. Um mögliche Umweltauswirkungen der Produktion von In-vitro-Fleisch abschätzen zu können, bedürfe es weiterer wissenschaftlicher Studien, meint das KIT in Karlsruhe.

Merck Ethics Advisory Panel for Science and Technology

Merck als Wissenschafts- und Technologieunternehmen stellen sich immer wieder ethische Fragen, die sich aus den Geschäftsfeldern ergeben. Hierzu zählt der Umgang mit Stammzellen und Tierversuchen in der Forschung oder die Auseinandersetzung mit genomverändernden Methoden wie CRISPR/Cas. Merck ist es eigenen Angaben zufolge wichtig, Forschung in ethisch verantwortungsvoller Weise durchzuführen und eine konkrete Position zu bioethischen Fragen, die sich aus seinen Geschäften ergeben, zu beziehen. Zu diesem Zweck wurde vor zehn Jahren ein unabhängiger Ethikausschuss, das „Merck Bioethics Advisory Panel“, gegründet, das zum „Merck Ethics Advisory Panel for Science and Technology“ (MEAP) weiterentwickelt wurde. Dieses setzt sich aus sieben internationalen Vertretern unterschiedlicher Disziplinen, darunter Medizin, Medizinrecht, Philosophie und Ethik, zusammen, die Merck dabei unterstützen, ethisch verantwortungsvoll zu agieren.

Auch beim Thema Cultured Meat hat Merck das MEAP frühzeitig einbezogen. Das Panel tagte zuletzt Anfang April, um unter anderem über folgende Themen im Zusammenhang mit Cultured Meat zu beraten: über Umweltaspekte wie die Verringerung von Wasserverbrauch und CO2-Emissionen, gesellschaftliche Aspekte wie dem potenziell positiven Einfluss von Cultured Meat auf die Ernährungssicherheit, Gesundheitsaspekte wie der Sicherheit von Lebensmitteln sowie über Tierschutz unter dem Aspekt, kein tierisches Material mehr zu verwenden.

Bei Merck ist man überzeugt: Das Ziel von Innovationen wie Cultured Meat ist es, das Leben zu verbessern – nicht nur für den Einzelnen, sondern für die Gesellschaft insgesamt. Deshalb hat Merck neben der Entwicklung von technischen Lösungen für die Cultured-Meat-Branche auch die sozialen, ethischen und gesundheitlichen Aspekte von Cultured Meat im Blick. Mit dem MEAP soll sichergestellt werden, dass sich Merck dabei auf dem richtigen Weg befindet, erklärt Thomas Herget, Head of Merck Silicon Valley Innovation Hub.

Das Panel berät Merck nicht nur zu hochkomplexen und in der Öffentlichkeit diskutierten wissenschaftlichen Themen, sondern bietet als „Ethics Foresight“ Taskforce auch ethische Perspektiven für geplante Geschäftsszenarien an. „Um wichtige Fragestellungen frühzeitig aufzuspüren, suchen wir den engen Austausch mit allen Kollegen“, sagt Martina Hueber, Lead Expert Ethics Advisory Panel.

Quelle: UmweltDialog
 

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