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Keine Angst vor China

Wir brauchen die chinesische Wirtschaftsentwicklung nicht überbewerten, sagt der Volkswirt und Theologe Joachim Wiemeyer in unserem Gespräch und sieht Deutschland nach wie vor als Globalisierungsgewinner. Entwicklungsländer warnt er aber vor einer steigenden Schuldenabhängigkeit gegenüber China.

29.06.2022

Keine Angst vor China

UmweltDialog: Herr Professor Wiemeyer, der Soziologe Hartmut Rosa sagt, durch technische Beschleunigung und die Steigerung unseres Lebenstempos werden unsere Beziehungen zur Außenwelt und zum Wohnort weniger stabil. Dreht sich die Welt für manche von uns heute zu schnell? 

Prof. Wiemeyer: Worauf bezieht sich denn der Beschleunigungsaspekt exakt? Das müssen wir zunächst klären. In der öffentlichen Wahrnehmung haben wir häufig eine Diskrepanz zwischen technologischer Beschleunigung und der Realität. Nehmen Sie als Beispiel den vermuteten Anstieg der Arbeitsproduktivität in den letzten Jahren. Angesichts der Diskussionen über die Digitalisierung müssten wir sehr schnell durch den technischen Fortschritt das Wegrationalisieren von Arbeitsplätzen sehen. Tatsächlich ist die Arbeitsproduktivität der letzten Jahre sehr gering angestiegen, während die Zahl der Arbeitsstunden und die Anzahl der Arbeitsplätze zugenommen haben.

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Auch die Dauer der Betriebszugehörigkeit ist in Deutschland leicht gestiegen. Das heißt, dass Menschen nicht andauernd ihren Arbeitsplatz wechseln, es sei denn es handelt sich um Branchen, die insgesamt durch Flexibilität gekennzeichnet sind; wie das Gaststättengewerbe etwa. Menschen verlassen vor allem wegen des Studiums ihren Heimatort. Aber ansonsten ist die deutsche Bevölkerung relativ immobil und hat ihren Lebensmittelpunkt häufig wenige Kilometer vom eigenen Geburtsort entfernt. 

UD: Der Politologe Ulrich Menzel definiert Globalisierung als die Kompression von Raum und Zeit. Machen wir uns vielleicht ein falsches Bild von Globalisierung, etwa als einem sich immer weiter ausdehnenden Prozess? 

Prof. Wiemeyer: Ja, der Prozess der Globalisierung ist ja nicht naturwüchsig, sondern wurde politisch gestaltet. Technische Möglichkeiten wie die Digitalisierung oder die Verbilligung der Verkehrsströme sind nur Voraussetzungen, aber letztlich sorgt der politische Gestaltungswille dafür, dass Globalisierung tatsächlich durch eine immer intensivere wirtschaftliche Verflechtung stattfindet. Diese kann – das zeigt der Krieg in der Ukraine – auch schnell gestoppt werden.

UD: Der Angriff Russlands auf die Ukraine und die autokratische Herrschaft Putins zeigen, dass weltweite wirtschaftliche Verflechtung eben nicht zu einem automatischen Ausbreiten freiheitlicher, demokratischer Grundwerte führt. Wo lag der Denkfehler? 

Prof. Wiemeyer: Nach 1990 lag die Hoffnung in der Globalisierung, dass man auch mit China und Russland durch wirtschaftliche Verflechtung insgesamt weltpolitisch Gemeinsamkeiten entwickelt. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit sollte den Wohlstand mehren und durch Austausch, Reisen und Studien junger Menschen sollte es zu einer Annährung der unterschiedlichen politischen Systeme in Richtung westlicher Werte wie Menschenrechte und Demokratie kommen. Unsere Annahme, dass man Menschen bei einer wirtschaftlichen Entwicklung, die auf Innovation und Technologie beruht, nicht ausschließlich zu freien, mündigen Unternehmern machen könne, sondern sie am politischen Entscheidungsprozess im Sinne eines freien, mündigen Bürgertums teilhaben lassen müsse, hat sich bis jetzt noch nicht bewahrheitet. 

Im Falle Chinas ist diese Entwicklung aber noch offen. Sollten die repressiven Maßnahmen der jetzigen chinesischen Regierung die Wirtschaftskraft hemmen und eine wirtschaftliche Stagnation auslösen, wird das gesamtgesellschaftliche Folgen für das Land haben. 

UD: Sie argumentieren, dass es einen Zusammenhang zwischen Rohstoffreichtum und mangelnder politischer Freiheit und gesamtgesellschaftlichem Wohlstand gibt. Wie das? 

Prof. Wiemeyer: In Ländern wie Russland, Saudi-Arabien oder auch in vielen Teilen Afrikas stellen Rohstoffe diesbezüglich einen Fluch dar. Hier sind diktatorische Regime durch den Export von Öl, Gas et cetera reich geworden, und eine herrschende Gruppe hat sich jeweils alle wirtschaftlichen Vorteile gesichert und gibt die Mittel zur Absicherung ihrer Macht statt zur Entwicklung des Landes aus. Wie sich Rohstoffreichtum zum Wohle aller nutzen lässt, zeigt sich im Gegensatz dazu in Norwegen. Den Norwegern ist es durch ihren Staatsfond gelungen, die Rohstofferlöse der gesamten Bevölkerung zugutekommen zu lassen.

UD: Das heißt im Umkehrschluss, dass Rohstoffarmut gesamtgesellschaftlich Vorteile hat.

Prof. Wiemeyer: Japan und Deutschland etwa sind rohstoffarm. Beiden Ländern blieb nach dem Zweiten Weltkrieg nichts anderes übrig, als in Menschen durch Bildung zu investieren und auf dem Weltmarkt hochfertige Qualitätsprodukte anzubieten und Marktführerschaft zu erlangen. In unserem Falle sind das Branchen wie der Automobilsektor, der Maschinenbau oder die chemische Industrie. Und mit unseren Exporterlösen sind wir in der Lage, die Rohstoffe zu bezahlen, die wir benötigen. 

UD: Die Globalisierung ist mit dem Versprechen angetreten, dass freie Märkte den größten Vorteil für alle bringen. Das wird zunehmend auch in Industrienationen hinterfragt. Wie muss eine neue Narration lauten?

Deutschland als Ganzes gehört ganz klar zu den Globalisierungsgewinnern.

Prof. Wiemeyer: Deutschland als Ganzes gehört ganz klar zu den Globalisierungsgewinnern. Wir generieren Exportüberschüsse in wichtigen Branchen und haben zahlreiche „heimliche“ Weltmarktführer im Mittelstand.

Natürlich hat sich durch die Globalisierung und die Digitalisierung die Wirtschaft strukturell gewandelt. Auch in Deutschland haben wir einen großen Niedriglohnsektor, in dem hauptsächlich zugewanderte Menschen arbeiten. Wer heute ein Päckchen von Amazon bekommt, wird meistens von einem Fahrer mit Migrationshintergrund beliefert.

Darüber hinaus gibt es natürlich auch Branchen, die durch Billigexporte oder internationale Konkurrenz bedroht sind und in denen Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren. Hier liegen dann die Vorteile der Globalisierung hauptsächlich bei den Konsumenten, die ihre Produkte günstig auswählen können. Wir können aber die negativen Auswirkungen durch sozialen Ausgleich weitestgehend kompensieren. Das ist in den USA so nicht passiert: Die schwach ausgestaltete Regionalpolitik kann dort den Strukturwandel durch wirtschaftspolitische oder sozialpolitische Maßnahmen nicht abfedern. Darüber hinaus hat die Mittelschicht in den vergangenen 20 bis 30 Jahren keinen Einkommenszuwachs verzeichnet und ist im Gegensatz zur deutschen geschrumpft.

UD: Damit spricht vieles für ein Modell der sozialen Marktwirtschaft auf globaler Ebene. 

Prof. Wiemeyer: Ja, die Mehrzahl der Ökonomen rechnet die Vorteile des internationalen Handels aus, enthält sich aber Werturteilen zur gerechten Verteilung. Wie die Globalisierungsgewinne verteilt werden, muss politisch entschieden werden. Passiert das nicht, können bestimmte Regionen oder Bevölkerungsgruppen zu Globalisierungsverlierern werden, finden sich in sozialen Protestbewegungen wieder und wählen Politiker wie Donald Trump. 

UD: Chinas Aufstieg wird von vielen argwöhnisch beäugt. Wir gehen davon aus, dass der Aufstieg des einen den Abstieg des anderen bedeuten wird. Sind wir in Europa nachher am Ende doch die Globalisierungsverlierer? 

Prof. Wiemeyer: China hat ein niedrigeres Pro-Kopf-Einkommen als die meisten europäischen Länder. Im Vergleich zu Deutschland hat das Land uns beim Bruttosozialprodukt nur überholt, weil es 20 Mal so viele Einwohner hat und deswegen eine andere Wirtschaftsleistung erbringen kann. Wachstumsraten von bis zu zehn Prozent waren zwar beeindruckend, aber man sollte diese Entwicklung auch nicht überbewerten, weil die Abstände im Pro-Kopf-Einkommen zwischen Deutschland und China nach wie vor sehr groß sind. 

Fertigung von Smartphones in China

Natürlich versucht China, Unternehmen wichtiger Schlüsseltechnologien aufzukaufen, durch massive staatliche Subventionen und Dumping führender Anbieter zu werden und andere Länder in diesen Bereichen abhängig zu machen. Aber wie groß sind denn beispielsweise unsere Investitionen dort? Nehmen wir mal die Automobilindustrie. Jeder namenhafte Autohersteller betreibt große Fabriken in China. Gibt es im Gegenzug einen chinesischen Autobauer in Deutschland?

UD: Wie kann die Globalisierung darüber hinaus so gestaltet werden, dass Entwicklungsländer gleichermaßen an den Gewinnen beteiligt werden? 

Prof. Wiemeyer: Da gibt es zwei Ansatzpunkte: Erstens muss die interne Struktur in den Entwicklungsländern für ausländische Investoren attraktiv sein. Eigene junge kreative Menschen dürfen am wirtschaftlichen Engagement nicht gehindert werden. Komplementär dazu müssen Infrastruktur und Bildungssysteme so ausgebaut werden, dass sie an den wirtschaftlichen Erfordernissen ausgerichtet sind. Das passiert in vielen Entwicklungsländern so nicht. Zweitens müssen die Entwicklungsländer einen freien Marktzugang ohne Zölle und andere Handelshemmnisse bekommen. 

Der Weg, den viele afrikanische Länder gehen, sich von China Infrastrukturen et cetera finanzieren zu lassen, um unabhängiger von US-Amerika und Europa zu sein, ist gefährlich, weil sie dadurch in eine Schuldenabhängigkeit gegenüber China geraten. Viele afrikanische Länder schauen auf das chinesische Wirtschaftsmodell, weil es dem asiatischen Land gelungen ist, mehrere 100 Millionen Menschen aus der absoluten Armut herauszuführen. 

UD: Globalisierung bedeutet für die meisten eine Methode zur Optimierung von Wirtschaftswachstum. Müssen wir mit Blick auf Nachhaltigkeit und planetare Grenzen nicht raus aus dem Hamsterrad? 

Prof. Wiemeyer: Wir müssen generell so wirtschaften, dass dauerhaft menschliches Leben auf unserem Planeten möglich ist und jeder unter menschenwürdigen Verhältnissen leben kann. Deswegen sind die Nachhaltigen Entwicklungsziele der UN für 2030 so wichtig, denn es geht auch darum, dass wir die absolute Armut überwinden und die bestehenden globalen Unterschiede zwischen den Ländern angleichen. Anderenfalls wird es zu weiteren Migrationsströmen und gesellschaftlichen Konflikten kommen. Beim Wirtschaftswachstum als Indikator für Wirtschaftsleistung müssen wir wiederum zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern unterscheiden. 

Denn in Entwicklungsländern ist erhebliches Wirtschaftswachstum notwendig, um die materielle Armut zu überwinden. Dabei müssen die Entwicklungsländer jene umweltschädlichen Phasen überspringen, die wir in der industriellen Revolution durchgemacht haben, um unseren Planeten nicht weiter zu gefährden. Das erfordert natürlich einen erheblichen Technologietransfer. In Industrieländern wie Deutschland lebt die Bevölkerungsmehrheit im relativen Wohlstand. Hier kauft man etwa Kleidungsstücke, weil man sie haben möchte und nicht, weil man sie unbedingt benötigt. Oftmals werden sie dann nach kurzer Zeit entsorgt; Shoppen wird zum Selbstzweck. Hier stellt sich zu Recht die Frage, ob weiteres Wirtschaftswachstum den Menschen mehr Sinn und Lebensqualität bietet. Vielleicht wären hier Aspekte wie eine größere Zeitsouveränität durch eine Reduzierung der Arbeitszeit und Lohnverzicht geeigneter, um die Lebensqualität der Menschen zu steigern. 

Prof. Dr. Joachim Wiemeyer war bis März 2021 Lehrstuhlinhaber für Christliche Gesellschaftslehre an der Katholisch- Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum.

Dieser Artikel ist im Original im Magazin „UmweltDialog“ zum Thema „Globalisierung“ erschienen.

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Quelle: UmweltDialog
 

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