Innovation & Forschung

Was wäre, wenn eine umfassende ökologische Regionalisierung stattfände?

Welche Themen, Technologien und Trends könnten Deutschland in den 2030er Jahren prägen? Damit beschäftigen sich die Zukunftsforscher Michael Astor und Christian Grünwald. Michael Astor ist Partner bei der Prognos AG, Christian Grünwald ist Foresight Director bei Z_punkt. Beide Beratungsunternehmen bilden in Konsortialpartnerschaft das Zukunftsbüro des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), welches das Ministerium bei der Identifikation und Analyse von Zukunftsthemen und -trends unterstützt und berät. Teil acht unserer Interview-Reihe.

19.08.2022

Was wäre, wenn eine umfassende ökologische Regionalisierung stattfände?

UmweltDialog (UD): Sie unterstützen das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) bei der strategischen Vorausschau. Was genau verbirgt sich dahinter?

Christian Grünwald: Vorausschau oder englisch Foresight ist die systematische und methodengeleitete Befassung mit komplexen Zukünften. Da es die Zukunft noch nicht gibt und diese sich in unterschiedliche Richtungen entwickeln kann, sprechen wir statt von der einen Zukunft von Zukünften. In der Vorausschau beschäftigen wir uns mit der Identifikation und Analyse von heute vorhandenen Trends, Innovationskeimen, Ideen und Narrativen, die unsere Zukunft in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren prägen könnten – und versuchen, diese in dynamisch-systemischen Fortentwicklungen weiterzudenken.

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Michael Astor: Wichtig ist dabei: Vorausschau macht keine Prognosen. Sie versucht also nicht die Zukunft vorherzusagen, sondern den zukünftigen Möglichkeitsraum zu erkunden. Grundlage unserer Arbeit im Zukunftsbüro ist ein sogenanntes Horizon Scanning, ein fortlaufendes Monitoring relevanter Quellen zur Identifikation der Trends, Technologien und Themen. Dabei schauen wir uns eine Vielzahl unterschiedlicher Quellen an, von wissenschaftlichen Artikeln bis hin zu Technologie-Blogs. Vorausschau-Prozesse sind keine einmalige Sache, sondern sollten in regelmäßigen Zeitabständen immer wieder neu durchgeführt werden, um einerseits neue Themen zu identifizieren, andererseits aber auch Annahmen aus den vorherigen Prozessen auf den Prüfstand zu stellen. Der aktuelle Vorausschau-Prozess im BMBF läuft seit Mitte 2019 und ist bereits der dritte, den das Ministerium durchführt.

UD: In der Studie „Die wechselseitige Entgrenzung von Biologie und Technologie“ stützt sich das Zukunftsbüro auf sechs unterschiedliche Szenarien der deutschen Gesellschaft in den 2030er Jahren. Eines davon ist das Szenario einer „Ökologischen Regionalisierung“. Könnten Sie dieses kurz skizzieren?

Grünwald: Vorneweg gestellt: Szenarien sind zugespitzte Darstellungen möglicher und plausibler Zukünfte, für die sich in der Gegenwart entsprechende Signale identifizieren lassen. Sie fokussieren sich bewusst auf einzelne Aspekte und Treiber, wodurch notwendigerweise andere Aspekte in der Beschreibung weniger starke Gewichtung finden. Dies gilt auch für das Szenario der „Ökologischen Regionalisierung“, das sich bewusst trennscharf von den anderen fünf im Prozess entwickelten Szenarien abgrenzt. Dem Szenario liegt die Dynamik zugrunde, dass eine Vervielfachung von Extremwettereignisse die Angst vor dem Klimawandel derart steigert, dass diese zu einem radikalen gesellschaftlichen Umdenken führt. Das Wirtschaftssystem in Deutschland wird sich unter dem Druck von lokal organisierten Graswurzelbewegungen mehr und mehr an den Leitbildern der Nachhaltigkeit und der Kreislaufwirtschaft ausrichten. In diesem Szenario ist die Relevanz bewusstseinsbezogener Werte deutlich gestiegen, die sinnvolle Verwendung von Zeit und der Umgang mit der Natur gewinnen an Wert: Die Menschen stellen sich noch stärker als heute Sinn-Fragen.

Astor: In diesem Szenario erfolgt also eine umfassende Neuorientierung von Wirtschaft und Gesellschaft, die neue Elemente der Partizipation und eine neue freiwillige Bereitschaft zum Verzicht beinhaltet. Dies führt sukzessive zu einer Neudefinition von zentralen Parametern zur Messung der Wirtschaftsleistung und zu einer Neuorientierung auf ein qualitatives Wachstum, das zum Beispiel Aspekte der Lebensqualität umfasst. So ist Zeitwohlstand in diesem Szenario vielerorts wichtiger als großer materieller Wohlstand. Zugleich kommt es im Zuge einer „Wiederannäherung an die Natur“ zu einer De-Urbanisierung und einer starken Orientierung an regionalen Wirtschaftsformen und -kreisläufen.

UD: Welche Rolle nimmt der Technologieeinsatz in diesem Szenario ein? Werden in dieser Welt technologische Innovationen neben den sozialen genutzt werden?

Astor: Eine Orientierung an den Prinzipien der Nachhaltigkeit ist nicht mit einer Kultur des Verzichts oder der Ablehnung von neuen Technologien gleichzusetzen. Im Gegenteil: Es herrscht eine hohe Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Technologien, die den ökologischen Fußabdruck verkleinern oder auch die industrielle Produktion an neuen ökologischen Standards ausrichtet. Hierbei geht es um die Nutzung von biohybriden Sensoren zur Erfassung von aktuellen Umweltzuständen, die regionale Belastung mit Schadstoffen oder von Störfällen. Eine Gesellschaft, die sich an ihrer regionalen Verantwortung orientiert, ist hier zugleich reaktionsschneller und kann das Wissen unmittelbar nutzen und umsetzen. Veränderungen zeigt sich auch in der industriellen Produktion, hier sehen wir die Möglichkeit einer intensiveren Nutzung von lebenden Materialien, synthetischen Zellen oder auch biohybriden Robotern. In wie weit dies zum Beispiel auch die Fleischproduktion betrifft, die sicher nicht mehr mit einer intensiven Viehhaltung verbunden sein wird, bleibt eine spannende Diskussion. Diese wird in dem skizzierten partizipativen Politikansatz sicher kontrovers geführt werden.

Grünwald: Zugleich würden in diesem Szenario immer mehr Menschen hinterfragen, ob ein kommunikativer Austausch über große Distanzen hinweg nicht viel häufiger virtuell stattfinden sollte. Zu denken ist dabei nicht nur an die digitalen Komponenten, sondern zum Beispiel auch an die Nutzung von weichen, kleidungsähnlichen Exoskeletten, die Begegnungen mit haptischen Eindrücken verbinden können und damit dem virtuellen Meeting durch das Spüren eines Händedrucks oder einer Umarmung eine zusätzliche Komponente des Erlebens ermöglichen. Exoskelette werden uns auch in der Mobilität unterstützen, indem sie uns hier ausdauernder, schneller und leistungsfähiger machen. Dies gilt nicht nur für bewegungseingeschränkte oder ältere Menschen, sondern für alle, die Distanzen zu Fuß oder mit nicht motorisierten Fahrzeugen zurücklegen wollen.

UD: Wie wird Arbeit in dieser Zukunftswelt organisiert?

Astor: Am Arbeitsplatz werden intensiv Technologien genutzt und wir erwarten einen hohen Grad der Automatisierung mit einem intensiven Einsatz von humanoiden Robotern. Diese finden in der Produktion, in der Dienstleistungserbringung und in der Pflege Einsatzfelder. Es besteht die Möglichkeit, sie durch den Einsatz von biohybriden Materialien in der Interaktion weniger technisch erscheinen zu lassen und ihnen dadurch freie Bewegungsräume zuzugestehen.

Grünwald: Eine Konsequenz davon lautet: viele Arbeitsplätze werden durch den Technologie- und Robotereinsatz verlorengehen oder sich stark verändern. Auch die Organisation von Arbeit verändert sich. An dieser Stelle kommen wieder die gesellschaftlichen Werte zum Tragen. Die Gesellschaft ist nicht mehr nur auf Wachstum und Arbeit orientiert, sondern schätzt Zeitsouveränität und Freiräume.

UD: Wie schätzen Sie das von Ihnen beschriebene Szenario vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine ein?

Grünwald: Im Moment wird alles durch die unmittelbare Krisenhaftigkeit des Ukraine-Krieges überlagert. Dabei dürfen wir jedoch nicht übersehen, dass es sich bei der Zwillingskrise aus Klimawandel und Verlust der Biodiversität ebenfalls um eine unmittelbare Krise handelt, die jedoch nicht ruckartig, sondern eher schleichend unseren Alltag verändert. Gleichwohl besteht auch hier immenser Handlungsdruck. Nachhaltigkeit und Regenerativität verlieren durch den Ukraine-Krieg als Themen nicht an Bedeutung, im Gegenteil, sie werden durch Extremwetterereignisse sich immer wieder neu in Erinnerung rufen. Daher erwarten wir sowohl technologisch als auch gesellschaftlich für die 2030er Jahre große Veränderungen. Wir müssen lernen, mit multiplen Krisenbündeln, also der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Krisen, umzugehen.

Astor: Wir sehen doch jetzt schon, dass der Ukraine-Krieg uns dazu zwingt, unseren Umgang mit Ressourcen und Technologien zu überdenken. Das Selbstverständnis, dass unser Konzept der Globalisierung eine ständige Verfügbarkeit von Rohstoffen und Vorprodukten ermöglicht, wurde ja schon in der Pandemie nachhaltig erschüttert. Krisen sind Trendverstärker, weil sie alte Strukturen aufbrechen und Prozesse beschleunigen. Szenarien können einen wichtigen Beitrag leisten, die langfristigen Wirkungen dieser Dynamiken zu beschreiben.

Über Michael Astor:

Michael Astor ist Partner der Prognos AG und leitet die Geschäftseinheit Wirtschaft, Innovation, Region. Herr Astor verantwortet seit vielen Jahren strategische Projekte und Evaluationen im Bereich der Innovations- und Technologiepolitik. Bereits in den 1990er Jahren entwickelte er als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschung Technik und Gesellschaft Szenarien mit unterschiedlichen Geschäftsbereichen der Daimler-Benz AG. Im Anschluss an das Studium der Soziologie, Geschichte und Philosophie an der Georg-August-Universität Göttingen (M. A.) forschte er an der Gesamthochschule Kassel und an der Universität Göttingen. Michael Astor verfügt über langjährige Erfahrungen in der Beratung, unter anderem als Mitarbeiter der Daimler-Benz AG Forschung, Technik und Gesellschaft und der VDI/VDE Technologiezentrum Informationstechnik GmbH. Bei der Prognos AG ist er verantwortlich für Fragen des Wissenschaftssystems und der Mittelstandsförderung. Herr Astor ist Mitglied des Kuratoriums des Fraunhofer-Instituts für Graphische Datenverarbeitung (Darmstadt, Rostock, Graz).

Über Christian Grünwald:

Christian Grünwald ist Foresight Director bei Z_punkt, einer Beratung für strategische Zukunftsfragen mit Sitz in Köln, die gemeinsam mit der Prognos AG das Zukunftsbüro des BMBF bildet. Christian Grünwald verantwortet bei Z_punkt den Bereich Public Foresight. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Szenario- und Leitbildentwicklung sowie Trendprojekte im öffentlichen Sektor und der Wirtschaft. Er beschäftigt sich intensiv mit den Folgen des technologischen Wandels für Politik und Gesellschaft, der Zukunft der Arbeit sowie der innovativen Anwendung von Foresight-Methoden. Nach seinem Studium der Politik- und Religionswissenschaft sowie der Neuzeitlichen Geschichte und anschließender Promotion war Christian Grünwald vor seiner Arbeit für Z_punkt acht Jahre in einer großen deutschen Kommunikationsagentur sowie als Lehrbeauftragter an der Universität Kassel tätig. Seit 2018 ist er auch als Lehrbeauftragter für Zukunftsforschung an der Leuphana Universität Lüneburg tätig, ebenso als Gastdozent an weiteren Universitäten, etwa der Università Ca’Foscari in Venedig.

Strategische Vorausschau

Über die „Strategische Vorausschau“:

Die Strategische Vorausschau ist für das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ein wichtiges Instrument, um frühzeitig Orientierungswissen über mögliche zukünftige gesellschaftliche und technologische Entwicklungen zu bekommen. Ziel ist es, die richtigen Weichen zu stellen, um künftigen Herausforderungen frühzeitig zu begegnen. Hierfür wurde der sogenannte Zukunftskreis berufen: 16 Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Disziplinen beraten das BMBF hinsichtlich Zukunftstrends. Aber auch den Bürgerinnen und Bürgern bieten die Ergebnisse der Vorausschau eine gute Orientierung für die Zukunft. Mehr Informationen finden Sie hier.

 
 
 
 
 
 
Quelle: UD
 

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