Business Case

Zweijahrestakt-BIP: ein Reformkonzept

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist noch immer die Maßeinheit wirtschaftlichen Wohlstands schlechthin. Neben alternativen Indikatoren würde die Erfassung von BIP-Veränderungen in postindustriellen Ländern auf Zweijahresbasis - oder: in der doppelten Zeitspanne wie jetzt - für nachhaltigeres Wirtschaftswachstum und weniger Spannungen an den Finanzmärkten sorgen.

06.10.2015

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Keine Frage: Das Bruttoinlandsprodukt hat den Angriffen, die in letzter Zeit dagegen gerichtet worden sind, gut standgehalten. Egal wie hart die Kritik gegen den bekanntesten Index für wirtschaftlichen Wohlstand, der sich aus Konsum- (C), Investitions- (I), Staatsausgaben (G) sowie Nettoexporten (NX) zusammensetzt, auch ausfallen möge: Jede BIP-Prognose lässt immer noch Regierungen und Analysten den Atem stocken. Diese Feststellung geht vor allem darauf zurück, dass die kapitalistische Marktwirtschaft auf das stete Wachstum der Wirtschaftsleistung ausgerichtet ist, wobei ihr jedes andere Szenario (z.B. deren Rückläufigkeit oder Stagnierung) alles andere als wohl bekommt. Das Gross Domestic Product (GDP) ist allerdings nicht immun gegen Konstruktionsfehler. Dabei ist neben den bekanntesten Kritikvorwürfen vor allem anzusprechen: die gänzliche Nichtberücksichtigung von häuslicher oder ehrenamtlicher Arbeit, aus der sich kein Lohnbezug ergeben sollte.

Die Kritik am BIP stützt sich also häufig darauf, dass vielerlei Tätigkeiten aus dem Alltag laut purem Wirtschaftsansatz keinen positiven Wert innehaben würden, solange man daraus kein Gehalt beziehen sollte. Insgesamt ist es zudem greifbar, wie die Höhe des Einkommens (und des entsprechenden Beitrags zum BIP) häufig nicht den realen Nutzen des Handelns eines Wirtschaftssubjekts, sondern nur den erwirtschafteten Wert widerspiegeln. Schon in den Worten Robert Kennedys aus dem Jahre 1968 würde das Bruttoinlandsprodukt letztendlich alles außer dem messen, wozu es sich zu leben lohne. Aber wodurch zeichnen sich neue Wohlstandsindikatoren aus, die von der Forschungs- und Wirtschaftswelt formuliert werden, um den BIP-Denkansatz wenigstens zu ergänzen? Jeder von ihnen konzentriert sich zumeist auf einen spezifischen Aspekt - sei es auf die Zufriedenheit der Individuen, das ökologisch nachhaltige Wachstum oder diverse Faktoren - und bei genauso jedem dieser alternativen Wohlstandsmaße sind auch Achillesfersen auszumachen.

Obwohl das früher noch genannte Bruttosozialprodukt (BSP) verschiedene Mängel belasten, bleibt es immer noch das ultimative Maß wirtschaftlichen Wohlstands. Alles in allem ebnet die Pluralität an Wohlstandsmessern (und die mangelnde Übereinstimmung über „den“ BIP-Ersatz) letztendlich dem Bruttoinlandsprodukt selbst den Weg, sich doch noch zu behaupten. Die übrig bleibende Ratio ist klar: Wenn sich schon kein Reformweg bei der Messung der Wirtschaftsleistung ohne den Rückgriff auf das BIP finden lässt, dann sei es eben mit ihm. Im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Debatte über „Wachstumsrücknahme“ oder „Entwachstum“ (degrowth), unter denen weniger Konsum- und Produktionssteigerungen der Nachhaltigkeit wegen zu verstehen sind, ist bislang nicht daran gedacht worden, das Bruttoinlandsprodukt in postindustriellen Nationen der Welt erst jedes zweite Jahr zu berechnen. Da die Weltbank schon jetzt zwischen Länderkategorien auf Grundlage des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf unterscheidet, ließen sich Nationen, für die die BIP-Messung nunmehr im Zweijahresakkord vorzusehen wäre, genauso einwandfrei ausmachen.

Länderkategorien auf Grundlage des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf.

Damit ließe sich auch zahlenmäßig reflektieren, dass Hocheinkommensländer aufgrund ihres ohnehin ausgeprägten Wohlstands nicht (unbedingt) hohe Steigerungsraten erwarten sollten, was den Drang nach BIP-Wachstumsschüben zugunsten nachhaltigen Wirtschaftens verringern würde. Von dieser Neuerung würden sowohl wachstumsstarke als auch kriselnde Länder profitieren: Die ersten würden weiterwachsen, obgleich das Ausmaß davon jetzt auf einer Zweijahresbasis erfasst werden würde. Die zweiten müssten internationale Finanzmärkte hingegen nicht mehr zeitnah mit negativen Konjunkturindikatoren versorgen und sich den daraus unweigerlich ergebenden Turbulenzen aussetzen. Es würde letzten Endes mehr Zeit geben, nachhaltig gute Wirtschaftsergebnisse einzufahren, ohne überstürzte Reformmaßnahmen zu treffen. Selbst alle vom Bruttoinlandsprodukt abstammenden Wirtschaftsindizes wie Neuverschuldung, Inflation oder Arbeitslosenrate müssten jetzt auf einer Zweijahresbasis erfasst werden.

Alte und neue BIP-Erfassungsweise.

Wie aus dem Zahlenbeispiel hervorgeht, hätte das BIP von 2010 bis 2014 (auch bei Anwendung des neuen Zweijahreserfassungskriteriums) die gleiche Gesamtveränderung, nämlich 2,8 Prozent, verzeichnet: Der Unterschied zum Status quo läge aber darin, dass zwischenzeitlichen Leistungseinbrüchen (z.B. um 0,5 Prozent im Jahre 2012), die ansonsten ein gewisses statistisches Gewicht gehabt hätten, keine besondere Achtung beigemessen worden wäre (da sie nicht (mehr) mit dem Beginn eines wirtschaftlichen Negativtrends identifiziert werden würden). Selbst der dazu gehörende Graph ist unmissverständlich: Fluktuationen wären dank dem neuen BIP-Ansatz minimiert. Als Folge dieses Zeitgewinns könnten Kritiker dennoch die Gefahr erkennen, dass jeglicher Reformdruck von den Schultern der Regierungen fallen würde, was die Konjunktur hingegen noch mehr eintrüben könnte.

Dieses Szenario müsste aber nicht eintreten, wenn Entscheidungsträger immer noch mit jeglichen statistischen Daten versorgt werden würden, die ihnen Aufschluss über die wirtschaftliche Richtung eines Landes geben würden. Aber wo läge also der maßgebliche Unterschied zum jetzigen Stand der Dinge? Der Mentalitätswechsel würde sich darin befinden, dass Wirtschaftslenker immer noch alle nötigen Warnsignale - sprich: jede minimale BIP-Änderung - vor Augen haben würden, ohne dass sie gleich (zumindest in bereits hochentwickelten Nationen) als „Stagnation“ oder gar „Rezession“ bezeichnet werden würden. Dabei würde es sich natürlich nicht um eine Vertuschungsmanöver handeln, um die Wirtschaftsbaisse in Krisenländern zumindest statistisch zu verpanschen.

Graphik BIP.

Es wäre hingegen eine effektive Geste, um nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu fördern und den Fakt zu enttabuisieren, dass Hocheinkommensländer nicht (mehr) so dynamisch wachsen können, wie Entwicklungsländer es hingegen tun müssen. Da Rezessionsphasen dementsprechend nicht mehr zwei, sondern vier aufeinanderfolgende Quartale des Wachstumsstillstands bzw. -rückgangs - sprich: den doppelten Zeitraum - voraussetzen würden, ließen sich Probleme ohne den Druck an den Finanzmärkten lösen, der in der europäischen Schuldenkrise für heftige und urplötzliche Kursumschwünge gesorgt hat. Selbstverständlich wären Hocheinkommensländer immer noch angetrieben, positive Wachstumsraten einzufahren, aber Sicherstellung des bislang erreichten Wohlstands würde nun eine ebenso wichtige Rolle zugeteilt werden. Hochentwickelte Nationen könnten sich somit (endlich) einem wahrhaftigen Paradigmenwechsel bei der Arbeitsgestaltung widmen, die immer noch zu wenig vom Binom aus Produktivitätssteigerungen und Senkung von Arbeitszeiten geprägt ist und insgesamt kaum Vereinbarkeit von Familie und Arbeit (work-life-balance) im Berufsalltag oder ort- und zeitflexible Arbeitserledigung (z.B. durch Telearbeit und desk sharing) ermöglicht.

Letzten Endes lässt sich die bisherige Dominanz des Bruttoinlandsprodukts, das nur das monetär Messbare erfasst, auf dem gleichen Irrglauben, nach dem nur außerhalb der eigenen vier Wände gearbeitet werden kann oder Arbeitszeit über tatsächliche Leistung - sprich: Quantität über Qualität - geht. Für die globale Gesellschaft hat nun endlich die Stunde geschlagen, mithilfe bestehender Institutionen wie des Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) dem 21. Jahrhundert tatsächlich gerecht zu werden.

Quelle: UD
 

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