Wirtschaftsethik

„Unsichtbare Hand" auf dem Prüfstand

Hohe Gewinne auf Kosten des Gemeinwohls sind ein Missstand, der nur durch gesetzliche Regulierung wirksam beeinflusst werden kann. Lars Jaeger entlarvt in diesem Beitrag den Ansatz der „unsichtbaren Hand“ als Mythos und formuliert konstruktive Ideen für ein ethisch ausgerichtetes wirtschaftliches Schaffen.

30.10.2020

„Unsichtbare Hand" auf dem Prüfstand

Von Lars Jaeger

Das schweizerische Pharmaunternehmen Lonza macht dieser Tage Schlagzeilen: Dort stellte man 2017 fest, dass seine Fabrik in Visp im Kanton Wallis jahrzehntelang immense Mengen an Lachgas (Distickstoffmonoxid) emittiert hat. Dieses hat einen Treibhauseffekt von etwa 600.000 Tonnen Kohledioxid pro Jahr (der Treibhauseffekt von Lachgas ist 300 -mal so stark wie der von CO2), über ein Prozent der gesamten Klimagasemissionen der Schweiz, und das aus einer einzelnen Fabrik! 

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Ein global führender Chemiekonzern, der sich in den letzten Jahren gerne als Vorreiter einer grünen Industrie präsentiert, hat also jahrelang nicht bemerkt, dass er Hunderttausende CO2-äquivalente Extra-Tonnen Klimagas in die Luft bläst. Man würde nach dieser Peinlichkeit denken, dass Lonza daraufhin doch die Emissionen schnell stoppt. Möglich wäre das durch den Einbau eines Katalysators, der das Lachgas in Stickstoff und Sauerstoff umwandelt, es also buchstäblich in Luft auflöst. Pustekuchen. Stattdessen entschied sich der Konzern zu einem Katz-und-Maus-Spiel mit den schweizerischen Behörden, wie Recherchen des schweizerischen Tagesanzeigers aufgezeigt haben. 

Dabei ging es um die Finanzierung der Katalysator-Anlage, die zwölf Millionen Schweizer Franken kostet, ein läppischer Betrag für eine Firma, die im Jahr 2019 fast sechs Milliarden Umsatze und weit über eine Milliarde Franken Gewinn verbuchte. Lonza verlangt nicht nur, dass der schweizerische Staat die zwölf Millionen Franken Kosten übernimmt. Denn auf einmal rochen die Manager Geld. Sie forderten, dass der der Bau des Katalysators vom Bund als CO2-Kompensationsprojekt anerkannt wird. Jede Tonne CO2-Reduktion (oder das Äquivalent dazu) können der Firma 95 Franken einbringen. Auf einmal winken der Firma also Dutzende Millionen Franken Extra-Gewinne anstatt nur die Übernahme der zwölf Millionen Kosten durch den Staat. In all der Zeit der Verhandlungen (unterdessen sind mehr als drei Jahre vergangen, seit die Firma die Lachgas-Emission entdeckt hat) pustet die Firma Mengen an Klimagas in die Luft, obwohl es so einfach wäre, dieses zu verhindern. Die Öffentlichkeit und die Lonza-Aktionäre wurden über diesen Ausstoß erst zwei Jahre später informiert, und der Katalysator wird voraussichtlich erst im Frühjahr 2022 eingebaut. Die Firma ist kostenmäßig dagegen längst aus dem Schneider.

Aus solchen Beispielen wird deutlich, dass das 1776 von Adam Smith eingeführte Konzept der „unsichtbaren Hand“ in der Realität kaum auf die Weise wirkt, wie sich das die Ökonomen in ihren Modellen gerne vorstellen (es ist umstritten, ob Smith selbst mit diesem Ausdruck gemeint hat, dass, wenn alle Akteure an ihrem eigenen Wohl orientiert sind, eine Selbstregulierung des Wirtschaftslebens zu einer optimalen Produktionsmenge und -qualität und zu einer gerechten Verteilung führt. Aber so ging diese Metapher in die Wirtschaftslehre ein). Ein bedeutender Aspekt, der verhindert, dass ein unbedingter, reiner marktwirtschaftlicher Wettbewerb zu gesellschaftlich akzeptablen Zuständen führt, ist, dass Kosten externalisiert werden. So ist der Ausstoß von Treibhausgasen wie CO2 oder Lachgas nach wie vor mit sehr geringen Kosten für die Verursacher verbunden; die realen Kosten werden weitestgehend in die Zukunft verbucht – und dann von allen bezahlt. Es ist, als würde man Müll aus dem Autofenster werfen. Dies ist für einen selbst die am wenigsten aufwendige und damit kostengünstigste Form der Entsorgung. Dass die Allgemeinheit mit dem Müll belastet wird, beziehungsweise für seine Entsorgung zahlen muss, wird nicht berücksichtigt. Es ist das bekannte Problem der „Tragik der Allmende“, das bereits Aristoteles in seinem Werk „Die Politik“ beschrieben hat: „Dem Gut, das der größten Zahl gemeinsam ist, wird die geringste Fürsorge zuteil“. Die Marktdynamik bietet keinen Mechanismus, der dieses nur allzu menschliche Verhalten verhindern würde. Die unter Kostendruck stehenden Unternehmen könnten sich den Wettbewerbsnachteil nicht leisten, wenn sie freiwillig den tatsächlichen Preis für Produktion, Nutzung, Nebenkosten und Entsorgung ihrer Produkte kosten, wenn dies ihre Konkurrenten nicht tun.

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Konkrete Berechnungen von global externalisierten Klimakosten kommen auf sehr große Zahlen:  

  • Der Internationale Währungsfonds IWF bezifferte 2013 die externalisierten, also nicht im Preis berücksichtigten Kosten der fossilen Energieerzeugung auf circa 4,9 Billionen US-Dollar pro Jahr. Das sind etwa 5,8 Prozent des globalen Bruttoinlandproduktes. 

  • Nicholas Stern, Leiter des volkswirtschaftlichen Dienstes der britischen Regierung und ehemaliger Weltbank-Chefökonom, schätzte 2006 die direkten jährlichen Kosten für Klimaschäden ebenfalls auf fünf Prozent des globalen BIP. Bei Berücksichtigung der Kosten, die darüber hinaus durch die Belastung von Umwelt und Gesundheit entstehen, kommt Stern sogar auf circa 17 Billionen US-Dollar, also auf 20 Prozent des globalen BIP. Umgerechnet auf die circa 37 Milliarden Tonnen CO2-Emissionen, die im Jahr 2019 emittiert wurden, sind das für jede Tonne emittierten Kohlendioxid Schadenskosten von circa 450 Dollar.

Kann man den Firmen einen Vorwurf machen, die in einem enormen wirtschaftlichen Wettbewerb stehen, nicht nur um Kosten und Kunden, sondern auch um Investoren und Aktionäre? Die Maxime der „shareholder value“-Optimierung aus den späten 1980er Jahren besagt, dass es nicht reicht nur wettbewerbsfähig zu sein, sondern dass auch der Firmenwert so weit wie möglich gesteigert werden muss. Da stören externe Auflagen natürlich nur. Wirtschaftsethiker stellen genau dieses Paradigma immer mehr in Frage und fordern stattdessen ein ethisches Fundament des wirtschaftlichen Schaffens, zum Beispiel in Form einer Sinngebung, die über die Gewinnmaximierung hinausgeht. Diese könnte darin liegen, den Zweck der Firma für die Gesellschaft klarer zu definieren. 

Beispiel für ethisches Fehlverhalten von Firmen gibt es jenseits von Lonza viele. Ein besonders eklatantes gibt uns die schweizerische Firma Glencore, die in den letzten Jahren immer wieder durch Skandale auf sich aufmerksam gemacht hat. Korruptionsvorwürfe, Verstöße gegen Umweltauflagen, Ausbeutung von Land und Bevölkerung in Drittwelt-Staaten, umstrittene Geschäfte zum Beispiel im Kongo und in Venezuela, die Untersuchungen der US-Justiz und kanadischer Behörden nach sich gezogen haben, Klagen von Aktionären wegen missbräuchlicher Geschäftsführung – die Liste der Klagen, die gegen diese Firma vorgebracht werden, ist lang. Und dennoch gedeiht die Firma prächtig, zu ihrem unredlichen Management gehören zahlreiche der reichsten Schweizer. „Ich bin Geschäftsmann, kein Politiker“, sagte ihr Chef einmal und rechtfertigte diese Aussage damit, dass es völlig in Ordnung sei, Geschäfte mit korrupten, gewalttätigen und rassistischen Regierungen zu tätigen und gegen Umweltauflagen zu verstoßen.

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Es gibt keine „unsichtbare Hand“, die ganz von allein die Dinge zum Besseren wendet. Der Ansatz, die Politik solle die Dinge einfach laufen lassen, um ein für alle Menschen bestmögliches Ergebnis zu bekommen, ist grundverkehrt. Denn ethisches Fehlverhalten wird vom Markt nicht zureichend abgestraft. Solange bedeutende Firmen wie Glencore und Lonza, oder auch Exxon und Koch Industries sich selbst keine Grenzen setzen und lieber dem eigenen Gewinnstreben auf Kosten des Gemeinwohls dienen, müssen diese Grenzen von außen gesetzt werden. Dies ist in erster Linie die Rolle der Politik. Konsumenten und Aktionäre können zwar gewisse Zeichen setzen, doch eine sichere und dauerhafte Änderung dieser Missstände kann allein der Gesetzgeber erreichen. Dass dies möglich ist, zeigen die folgenden Beispiele: 

  • In der Pharmabranche gelten in der meisten Ländern der Welt strenge Verfahren bei der Zulassung neuer Medikamente. Sie gewährleisten, dass Unternehmensinteressen nicht zu übergroßen Risiken für die Gesellschaft führen. In Deutschland hat nicht zuletzt der Contergan-Skandal Anfang der Sechzigerjahre Politik und Bürger für das Thema sensibilisiert. 
  • Bei der Kernenergie gibt es klare staatliche Auflagen, was Sicherheit und Entsorgung angeht. KKWs unterstehen daher strengen Auflagen. 
  • Nach vielen Jahren hat die amerikanische Justiz endlich gegen die jahrzehntelangen unsäglichen Lügen der Tabakindustrie bezüglich der gesundheitlichen Schäden ihrer Produkte durchgegriffen und sie zur Zahlung von Hunderten von Milliarden Dollar verurteilt.

In der Schweiz gibt es am 29. November 2020 eine Volksabstimmung, die fordert, schweizerischen Firmen in die volle Verantwortung zu nehmen, wenn es um Verletzungen von gesetzlichen Auflagen im Ausland geht. Firmen sollen sich dann im Ausland an die gesetzlichen Regeln halten, ganz so, wie sie es auch im Inland tun müssen. Eine Selbstverständlichkeit sollte man denken. Aber genau darüber tobt zurzeit eine heftige politische Schlacht in der Schweiz, in der die Wirtschaft über den Verlust ihrer Wettbewerbsfähigkeit jammert. Bezeichnender geht es nicht.

Lars Jaeger hat Physik, Mathematik, Philosophie und Geschichte studiert und mehrere Jahre in der Quantenphysik sowie Chaostheorie geforscht. Er lebt in der Nähe von Zürich, wo er – als umtriebiger Querdenker – zwei eigene Unternehmen aufgebaut hat, die institutionelle Finanzanleger beraten, und zugleich regelmäßige Blogs zum Thema Wissenschaft und Zeitgeschehen unterhält. Überdies unterrichtet er unter anderem an der European Business School im Rheingau. Die Begeisterung für die Naturwissenschaften und die Philosophie hat ihn nie losgelassen. Sein Denken und Schreiben kreist immer wieder um die Einflüsse der Naturwissenschaften auf unser Denken und Leben. Sein neuestes Buch „Sternstunden der Wissenschaft“ ist im Suedverlag erschienen.

Quelle: UD
 

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