Wirtschaftsethik

Nomaden des Anthropozän

Das Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung listet in einer aktuellen Studie „Urbane Dörfer“ 14 größere Wohnprojekte zwischen Gerswalde und Wiesenburg/Mark auf, die von Berliner „City Quittern“ auf dem Land installiert worden sind. So entstehen beispielsweise in Wiesenburg gleich neuartige Bauformen – Tiny Houses. Das Projekt nennt sich „KoDorf“ und will Stadt und Land vereinen.

07.02.2020

Nomaden des Anthropozän

„Die Ruhe der Natur mit der für unseren heutigen Lebensstil notwendigen Infrastruktur“, wie es auf der Projektwebsite heißt. Eine Option, die sich vor allem für Digitalarbeiter eröffnet, die überall arbeiten können und gerne solche naturnahen Coworking-Spaces nutzen, um das Beste aus beiden Welten für sich zu nutzen.

Auf Veranstaltungen des Vereins, der sich Dorfbewegung Brandenburg nennt, sieht man diese Entwicklung kritisch. Die angestammte Bevölkerung empfinde die neuen Siedler nicht selten als Usurpatoren, berichtet Grit Körmer, die stellvertretende Vorsitzende des Vereins und hauptamtliche Projektentwicklerin und Expertin für Förderprogramme im ländlichen Raum. „Wenn wir nicht aufpassen, entstehen hier lauter Fremdkörper in den ländlichen Regionen, die letztlich niemandem wirklich nützen“, stellt Körmer fest. Auf der anderen Seite erkennen Bürgermeister der ländlichen Regionen Ostdeutschlands durchaus neue Hoffnung für ihre Dörfer, wenn zunehmend Stadtflüchtige die Reize des Ruralen entdecken. Frederik Bewer, Bürgermeister von Angermünde, gehört zu denen, die sich auch auf den Meetups der neuen Landbewegung in Berlin herumtreiben und für neue Ideen zur Belebung des ländlichen Raums offen sind. Brewer könnte sich sogar vorstellen, eine Siedlung aus Seecontainern aufzustellen, um neue Wohn- und Lebensformen auszuprobieren. Die Idee dazu kommt von einem gerade erst gestarteten Unternehmen, das sich „Neue Räume zum Leben“ nennt und einen besonderen Akzent in der Entwicklung setzen möchte.

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„Wer wohnt denn normalerweise in Containern?“, fragt die Diplom-Geografin Claudia Kerns, die zu den Initiatoren gehört. Die Frage ist rhetorisch gemeint, denn natürlich denkt man erst einmal an Bauarbeiter oder Flüchtlinge. Die Assoziation sei auch gar nicht so abwegig, wie Kerns betont. Aber dazu später. Tatsächlich sind um- und ausgebaute Seecontainer eine durchaus bereits erprobte Wohnform für Menschen, die etwas anders wohnen wollen. In den USA, dem Land der Trailerparks, sind Containerhäuser nichts Ungewöhnliches, wohl aber noch bei uns. Die Begeisterung für ausgebaute Seecontainer hat hierzulande bisher eher eine kleine Fangemeinde angesteckt, die im DIY-Verfahren „Pocketcontainer“ ausbaut, wie sie beispielsweise der Ingenieur Stefan Brandt aus dem niedersächsischen Liebenburg für verschiedene Container-Standardmaße projektiert. Seine Baupläne verkauft er an Liebhaber des „Trends zum modernen Kleinstheim“. In größerem Stil baut die „Containermanufaktur“ in Berlin-Schöneweide seit 2015 Seecontainer aus. Dennoch sagt uns Projektmanager Christian Bickelmann, dass es sich noch nicht lohne, Containermodelle zu konfektionieren. „Der Markt dafür ist noch nicht da. Was wir machen, sind alles individuelle Einzel-Anfertigungen.“

Tiny Houses aus robusten Seecontainern

Woher nehmen dann aber Claudia Kerns und ihre Mitstreiter von „Neue Räume zum Leben“ ihre Motivation, auf Container als neue Wohnform und Antwort auf die neue Landlust zu setzen? Das Geschäftsmodell sieht nämlich vor, vorkonfektionierte und typisierte 20- und 40-Fuß-Seecontainer zu entwickeln. 20-Fuß-Container sind sechs Meter lang und jeweils zweieinhalb Meter breit und hoch, 40-Fuß-Container sind doppelt so lang. Gegenüber den inzwischen zu einer gewissen Beliebtheit gekommenen Tiny Houses aus Holz haben die Seecontainer den Vorteil einer robusteren Hülle und Statik. Allerdings benötigen sie zur Aufstellung ein tragfähiges Fundament und für den Transport einen Tieflader. Tiny Houses hingegen werden meist auf einem Anhängergestell herumgefahren und verbleiben auch auf dem fahrbaren Untersatz, wenn sie aufgestellt werden.

Die Container-Idee kam den Gründern von „Neue Räume zum Leben“, als sie mit dem inzwischen Ehrenbürgermeister des Bioenergiedorfs Bollewick an der Müritz über die Belebung der ländlichen Räume in Ostdeutschland diskutierten. Bertold Meyer berichtete, dass auch in seiner Region ein gewisses Interesse von Städtern am Umzug aufs Land zu verzeichnen sei. Allerdings fügte er hinzu: „Nicht jeder ist für das Leben auf dem Land geeignet.“ Daraus entstand die Idee, Kommunen und Landkreisen Optionen anzubieten, Städtern das „Probewohnen auf dem Land“ schmackhaft zu machen. Dass man das mit variabel kombinierbaren Containern machen könnte, wurde jedoch erst zur Geschäftsidee, als Claudia Kerns noch weitere Mitstreiter aus anderen Gebieten fand. Mit dabei sind inzwischen ein Philosophiestudent, der aus der Tiny House-Szene kommt, eine Architektin, die in der Nachhaltigkeitsabteilung eines großen Immobilienunternehmens gearbeitet hat, eine pensionierte Bezirksstadträtin, ein sozialpolitisch engagierter Vertriebsmanager aus dem Beleuchtungssektor, ein Energieberater sowie die Experten der stratum GmbH, die sich als Unternehmensberatung für den Non-Profit-Sektor betätigen und zu denen Claudia Kerns als ehemalige Mitgeschäftsführerin noch Kontakt hat.

Diese Partner bringen unterschiedliche Interessen und Expertisen mit ein, aus denen sich das Geschäftsmodell von „Neue Räume zum Leben“ speist. Der Student Joschka Härdtner ist aktiv im „Tiny Collective“, einer Art Ausgründung der Tiny Foundation des Van Bo Le-Mentzel, der mit dem „100-Euro-Haus“ in Berlin bekannt wurde. Das Tiny Collective möchte zum einen den Selbstbau von Tiny Houses als Gemeinschaftserlebnis fördern, zum anderen das Potential des mobilen Wohnens auf kleinem Raum nutzen, um demokratie- und gemeinschaftsfördernde Lebensformen zu erproben. Für Joschka Härdtner und einige seiner Mitmacher im Tiny Collective ist aber auch die Herausforderung des Werkstoffs Metall ein Motiv, sich am Containerprojekt zu beteiligen.

Eine junge Familie läuft auf dem Rasen vor dem Haus

Minimalistisches Wohnkonzept mit Anschluss an die Natur

Als durchgehendes persönliches Motiv bei allen „Neue Räume…“-Protagonisten stellen sich zwei Aspekte heraus. Einmal die Suche nach mehr „Naturanschluss“ zum Leben und Arbeiten, zum anderen die Idee, ein minimalistisches Wohnkonzept auch als Alterssicherung und gemeinschaftliche Lebensform mit mehr Mobilität und experimentellem Spielraum zu verbinden. Damit dürften sie zwei stabilen Mainstream-Trends unserer Gesellschaft entsprechen. Spricht man mit den Gründern, wird deutlich, dass hinter dieser Motivlage auch noch eine gehörige Portion gesellschaftspolitischer Vision steckt. „Wir machen ein Angebot für die Nomaden des Anthropozän“, verkündet Claudia Kerns, die die Geschäftsführung des Projekts übernehmen wird. Die Idee, in Containern zu wohnen, die flexibel aufgestellt und genutzt werden können, kein unterkellertes Fundament benötigen, sich dadurch relativ leicht den sozialen und klimatischen Lebensbedingungen anpassen lassen und bei den Bewohnern gar nicht das Gefühl aufkommen lassen „Hier bin ich und hier bleibe ich und verteidige, was ich habe“, diese Idee eines ressourcenleichteren und mobileren Wohnens sei ein neues, nachhaltigeres Zivilisationsmodell für die Anpassung an den Klimawandel. In Containern zu wohnen, näher an der Natur, aber ebenso näher an der Straße – denn Containersiedlungen ließen sich auch in städtischen Räumen realisieren -, heiße auch, so die Initiatoren, näher an den Nachbarn und mehr im Austausch mit dem sozialen Umfeld. Da der Container in seiner Größe begrenzt ist, liege die Herausforderung in der intelligenten Kombination der Nutzungen. So soll es neben Wohncontainern und Arbeitscontainern auch Nasszellen-, Sauna-, Küchen- und Werkstatt-Container geben, die aus ökonomischen, ökologischen und sozialen Gründen gemeinschaftlich genutzt werden.

Wenn demnächst also die Bürgermeister, Landräte und Regionalpolitiker im ländlichen Raum der neuen Bundesländer den Angebotsprospekt von „Neue Räume zum Leben“ auf den Schreibtisch bekommen, könnte das nicht nur ein praktischer Vorschlag sein, wie für die verschiedenen stadtmüden Zielgruppen die Hürde zum Probewohnen auf dem Land gesenkt werden könnte. Sondern es könnten, worauf Joschka Härdtner hinweist, ganz neue experimentelle Siedlungsformen entstehen, die wesentlich schneller geplant, realisiert, umgebaut und erweitert werden könnten, als dies noch heute der Fall ist. Wann es soweit ist? Die Macher von „Neue Räume zum Leben“ haben auf einem Naturcampinggelände in der Nähe von Fürstenberg/Havel ein Areal gepachtet, auf dem einige Modellcontainer wie in einem Showroom besichtigt und getestet werden können.

Den Vorwurf, das Land mit urbanen Konzepten zu usurpieren, möchte man auf keinen Fall provozieren. Was auf dem Gelände bei Fürstenberg deshalb auch zu testen wäre, so Claudia Kerns, sei die Akzeptanz bei der lokalen Bevölkerung. Gerade weil die Container allerdings optisch bereits als Fremdkörper wirkten und man sich damit nicht erst einmal im ländlichen Raum verstecken könne, sei es vielleicht einfacher, Neugierde und Interesse zu wecken, so die Hoffnung der Initiatoren. Gemeinsam mit der Bevölkerung im ländlichen Raum wolle man zudem darüber nachdenken, welche Funktionen sich durch die Container noch realisieren ließen, beispielsweise Mini-Kitas, Maker-Spaces oder kleine ärztliche und therapeutische Behandlungsstationen. Bereits im Januar soll es losgehen. Claudia Kerns rechnet damit, dass zu Ostern der Fürstenberger Showroom eröffnet werden kann.

Quelle: UD
 

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