Biodiversität

Biodiversität: die vergessene Krise?

Alle reden über den Klimawandel. Genauso dringend ist es, den weltweiten Artenverlust zu stoppen und die biologische Vielfalt zu erhalten. Beides kann nur zusammen bewältigt werden, meinen Fachleute. Unternehmen spielen dabei eine Schlüsselrolle. Aber auch jede und jeder Einzelne kann dazu beitragen.

01.06.2022

Biodiversität: die vergessene Krise?

Der Verlust der Biodiversität – das heißt der genetischen Vielfalt, der Vielfalt der Arten und der Ökosysteme – schreitet heute weltweit schneller voran als jemals zuvor. Hauptverursacher sind wir selbst, die wir diese Vielfalt durch unsere Lebens- und Wirtschaftsweise zunehmend verändern und zerstören. Etwa eine Million lebende Arten – von den schätzungsweise acht Millionen weltweit existierenden Tier- und Pflanzenarten – könnten in den nächsten Jahrzehnten aussterben, wenn wir so weitermachen wie bisher. Der WWF Deutschland spricht gar vom „größten Artensterben seit dem Ende der Dinosaurierzeit“.

„Todesursache: Mensch“

So lautete der Titel eines Artikels, der 2019, anlässlich des Globalen Zustandsberichts des Weltbiodiversitätsrats (IPBES), in DIE ZEIT veröffentlicht wurde. Fest steht: Die Ursachen für den weltweiten Verlust von Arten und Lebensräumen sind vielfältig und komplex. Als eine der Hauptursachen gelten jedoch Landnutzungsänderungen, zum Beispiel durch Abholzung, intensive Monokulturen und Urbanisierung. In Deutschland etwa verbrauchen wir laut NABU täglich rund 52 Hektar Landschaft für Gewerbe, Wohnungsbau, Verkehr und Erholungsflächen. Das entspreche etwa einem Einfamilienhaus pro Minute. Ein Nachhaltigkeitsziel Deutschlands für das Jahr 2030 ist deshalb, den Verbrauch auf 20 Hektar zu verringern. Hinzu kommt die Übernutzung von Ressourcen etwa durch Jagd und Fischerei. Als weitere Hauptursachen gelten Umweltverschmutzung, Klimawandel und die Verbreitung invasiver Fremdarten.

Welche Tier-, Pflanzen- und Pilzarten in Deutschland besonders gefährdet sind, geht aus den „Roten Listen“ hervor, die das Bundesamt für Naturschutz (BfN) herausgibt. Die neueste Liste betrachtet zum Beispiel den Gefährdungszustand wirbelloser Tiere, darunter verschiedene Insektenarten wie Käfer, Libellen, Stein- und Eintagsfliegen. Von den insgesamt mehr als 15.000 wirbellosen Arten, die in der aktuellen und den zwei vorherigen Roten Listen über wirbellose Arten analysiert wurden, gelten mehr als 4.600 Arten – also 29,6 Prozent – als in ihrem Bestand gefährdet.

Internationale Anstrengungen zum Biodiversitätsschutz

Mit dem Übereinkommen zum Schutz der biologischen Vielfalt (Convention on Biological Diversity, CBD) wurde 1992 auf der UN-Weltkonferenz in Rio de Janeiro ein internationales Regelwerk verabschiedet, das den weltweiten Artenverlust aufhalten soll. Die deutsche Bunderegierung hat sich als Unterzeichnerin des Abkommens dazu verpflichtet, zu dessen Umsetzung beizutragen und hierfür 2007 die Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt beschlossen. 2019 stand fest: Viele der für 2020 anvisierten sogenannten Aichi-Biodiversitätsziele wurden von den Vertragsstaaten verfehlt. Weltweit gibt es zahlreiche weitere politische Prozesse und Strategien, die auf die CBD referieren, darunter die UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, die ihrerseits wiederum als Referenzrahmen für Deutschlands Nachhaltigkeitsstrategie und die EU-Biodiversitätsstrategie dient. Ende 2021 nahm zudem die 15. Weltnaturkonferenz (COP15) mit Verhandlungen über einen neuen globalen Rahmen mit neuen Zielen zum Biodiversitätsschutz ihren digitalen Auftakt – die Fortsetzung soll noch 2022 folgen. Um die Erhaltung und Wiederherstellung der Ökosysteme zu fördern und deren Verschlechterung zu stoppen, wurde das Zeitfenster 2021 bis 2030 außerdem zur UN-Dekade für die Wiederherstellung von Ökosystemen erklärt. Sie folgt auf die UN-Dekade Biologische Vielfalt, die 2020 endete und wird vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) und der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) koordiniert. Auch Deutschland wird mit verschiedenen Maßnahmen zur Umsetzung der Ziele der UN-Dekade beitragen.

Umweltschützerinnen und Umweltschützer nehmen den alljährlichen internationalen Weltbienentag am 20. Mai zum Anlass, um auf das Insektensterben aufmerksam zu machen. Die Landwirtschaft hat hierauf einen großen Einfluss, vor allem durch den massiven Einsatz von Pflanzenschutzmitteln. Auch der Verlust einer Vielzahl an Blühpflanzen und die Lichtverschmutzung tragen maßgeblich zum Verschwinden von Wildbienen und Co. bei. Damit wird nicht nur anderen Tieren wie Vögeln die Nahrungsgrundlage entzogen (UmweltDialog berichtete), sondern es gehen auch wichtige Bestäubungsleistungen verloren. Laut Deutschem Imkerbund hängen hierzulande rund 85 Prozent der landwirtschaftlichen Erträge im Pflanzen- und Obstbau von der Bestäubung der Honigbienen ab.

Um dem Insektensterben entgegenzuwirken, wurde voriges Jahr das „Gesetz zum Schutz der Insektenvielfalt“ beschlossen, die neuen Regeln zum Natur- und Insektenschutz gelten seit dem 1. März. Damit werden Rückzugsgebiete besser geschützt und bestimmte Biozide, Pestizide sowie künstliche Lichtquellen in bestimmten Schutzgebieten verboten. Die Anwendung von Glyphosat direkt vor der Ernte, in Haus- und Kleingärten sowie auf öffentlichen Grünflächen ist bereits seit September verboten. Für den Ackerbau gelten Ausnahmeregelungen, hier soll die Verringerung des Biozid- und Pflanzenschutzmitteleinsatzes auf freiwilliger Basis erreicht werden.

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Biodiversitätsschutz in der Praxis

Das Beispiel Landwirtschaft verdeutlicht: Biodiversitätsverlust ist eine Herausforderung, die das gemeinsame Engagement verschiedener Akteure aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft erfordert. Wie das in der Praxis aussehen kann, zeigt die Entwicklung des neuen Zertifizierungs-Standards „GLOBALG.A.P. Add-On BioDiversity“. Dabei handelt es sich um das Ergebnis einer Zusammenarbeit von GLOBALG.A.P., Lidl und weiteren wissenschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen, das für mehr Biodiversität im konventionellen europäischen Obst- und Gemüseanbau sorgen soll. Zu den Kriterien, deren Einhaltung durch Audits überprüft werden, gehören beispielsweise Schutz- und Wiederherstellungsmaßnahmen und ein Abwassermanagement.

Als Lebensmittelhändler hängt auch Lidl existenziell von einer intakten, vielfältigen Natur und ihren Leistungen ab. Gleichzeitig hat das Unternehmen über seine Lieferkette einen großen Einfluss darauf, ob seine Produkte und deren Rohstoffe der Biodiversität schaden oder nutzen. Dessen ist man sich bei Lidl bewusst. Deshalb fördere man „verantwortungsvolle Anbau-, Ernte- und Verarbeitungsmethoden“ und unterstütze „ein nachhaltig tragfähiges Verhältnis zwischen landwirtschaftlichem Ertrag und dem Schutz von Böden, Wasser sowie Tier- und Pflanzenarten“, wie der Unternehmenswebseite zu entnehmen ist. „Biodiversität achten“ ist eines von sechs strategischen Fokusfeldern der Lidl-Nachhaltigkeitsstrategie. Um jene Rohstoffe zu identifizieren, deren Anbau mit besonders hohen Risiken für die Artenvielfalt verbunden ist, hat Lidl zudem bereits ein eigenes Biodiversitätsrisiko-Tool entwickelt.

Klimawandel und Biodiversität zusammen denken

Während das Bewusstsein für den Klimawandel in der deutschen Gesellschaft in den letzten Jahren immer stärker gewachsen ist, wird der Biodiversitätskrise vergleichsweise weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Auch Unternehmen rücken – angetrieben durch politische Entwicklungen sowie das gestiegene Interesse der Öffentlichkeit und von Investor:innen – vor allem Strategien und Maßnahmen zum Klimaschutz in den Vordergrund ihres Nachhaltigkeitsengagements. Doch es tut sich etwas, wie die Ergebnisse des „2022 Global Climate Survey“ von Robeco zeigen. Demnach gehen mehr als die Hälfte der befragten Investor:innen davon aus, dass das Thema Biodiversitätsschutz in den nächsten zwei Jahren an Bedeutung gewinnen wird.

Immer mehr setzt sich dabei die Erkenntnis durch, dass es sich bei den Auswirkungen des Klimawandels und des Biodiversitätsverlusts nicht nur um zwei der „wichtigsten Herausforderungen und Risiken für die menschliche Gesellschaft“ handelt, sondern dass beide „Krisen“ eng miteinander verflochten sind. Darauf weisen etwa Autorinnen und Autoren des IPBES und des Weltklimarates IPCC in einer gemeinsamen Publikation hin. „Klimaschutz und Artenschutz müssten in Zukunft viel mehr im Zusammenhang gedacht werden“, wird auch Biodiversitätsforscher Josef Settele von BR.de zitiert. Vieles, was der Biodiversität helfe, könne auch dem Klimaschutz dienen oder dem Menschen helfen, sich an die Folgen der Erderwärmung anzupassen. Ein Beispiel: Mehr Grün statt bebauter Flächen in den Städten kann sowohl hitzebedingten Gesundheitsrisiken für die Menschen entgegenwirken als auch zum Hochwasserschutz beitragen.

Biodiversitätsschutz in Städten und Quartieren

Genau hier setzt das Engagement des Wohnungsunternehmens Vonovia an. Auch bei Vonovia ist man überzeugt, dass der „dramatische Verlust von Biodiversität“ eine ebenso große Bedrohung für die Menschheit darstellt wie der Klimawandel. Mit seiner Biodiversitätsstrategie setzt sich das Unternehmen deshalb dafür ein, im eigenen Wohnumfeld die Lebensgrundlage für verschiedene Tier- und Pflanzenarten zu schaffen. Dafür hat man zum Beispiel ein Projekt mit dem NABU in einem Pilot-Quartier im nordrhein-westfälischen Bochum-Weitmar gestartet. Hier wird erforscht, wie Biodiversität gezielt gefördert und geschützt werden kann, zum Beispiel durch Wildblumenwiesen oder die Platzierung von Nist- und Rückzugsräumen für Vögel. Künftig sollen hier und an weiteren Orten noch mehr naturnahe Flächen entstehen, die sowohl der Artenvielfalt als auch dem Klimaschutz sowie dem Wohlergehen der Quartiersbewohner:innen dienen.

„Die Bekämpfung des Klimawandels und der Schutz von Ökosystemen kann nur gemeinschaftlich gelingen“, ist man auch bei E.ON überzeugt. Wie das Energieunternehmen zur biologischen Vielfalt beiträgt, erfahren Sie im UmweltDialog-Interview.

Ein Unternehmen, das sich schon lange dem Umwelt- und Artenschutz widmet, ist Kyocera. Zum Beispiel im Rahmen einer Partnerschaft mit der Deutschen Umwelthilfe (DUH), die seit mehr als 35 Jahren besteht: Im vergangenen Jahr haben die Partner ein neues Projekt auf den Weg gebracht, das dem Schutz von Fließgewässern und insbesondere dem Schutz des Flussregenpfeifers dient. Dieser war durch Gewässerbegradigungen sehr selten geworden, hatte sich dann aber wieder vermehrt in Ersatzlebensräumen wie Kiesgruben angesiedelt. Nun gerät sein Bestand erneut durch Freizeit- und Erholungsflächen in Bedrängnis. Um den Flussregenpfeifer zu schützen, sind dem NABU zufolge Maßnahmen wie der Schutz und die Renaturierung natürlicher Fließgewässer sowie die Erhaltung von Brachflächen von zentraler Bedeutung. Über das Engagement im Netzwerk „Lebendige Flüsse“ hinaus fördert Kyocera auch den Artenschutz am Standort in Meerbusch.

Biodiversität vor der eigenen Haustür fördern

Wer selbst aktiv zum Insektenschutz beitragen möchte, kann zum Beispiel beim NABU Insektensommer mitmachen. Dafür gilt es vom 3. bis 12. Juni und vom 5. bis 14. August die Sechsbeiner im Garten, auf dem Balkon oder im Park zu beobachten und zu zählen. Die Beobachtungen können online oder per App übermittelt werden. „Für Mensch und Natur ist die Insektenvielfalt überlebenswichtig. Sie sind für die Bestäubung von Nutz- und Wildpflanzen zuständig, verbessern die Fruchtbarkeit des Bodens, sind wichtige Nützlinge in der Forst- und Landwirtschaft und bilden eine wichtige Nahrungsquelle für eine Vielzahl weiterer Tiergruppen wie Vögel, Säugetiere, Amphibien oder Reptilien. Um sie effektiv zu schützen, müssen wir bei den verschiedenen Treibern des Insektensterbens ansetzen. Es ist vor allem die Kombination aus intensiver und strukturarmer Landwirtschaft, Klimawandel, Flächenversiegelung und Lichtverschmutzung, die die Insektenpopulationen so schnell schwinden lassen“, fasst Leif Miller, NABU-Bundesgeschäftsführer, zusammen.

Damit sich Insekten und Vögel in unseren Gärten wohlfühlen, kommt es übrigens nicht nur auf eine schöne Blüte, sondern auch auf die richtige Mischung an. Grundsätzlich empfiehlt es sich, zu heimischen Pflanzen zu greifen. Zudem sollte auf Blumenerde verzichtet werden, die Torf aus Hochmooren enthält. Beim Torfabbau werden wichtige Lebensräume für Tiere und Pflanzen zerstört, durch die Entwässerung entweicht klimaschädliches CO2. Als Alternative zu chemischen Pflanzenschutz- und Düngemitteln bieten sich zum Beispiel biologische Mittel, bestimmte Kräuter oder auch die Förderung von Nützlingen an, die bei der Schädlingsbekämpfung helfen. Ein Teich, eine Vogel- oder Insektentränke, eine Trockenmauer, ein liegengelassener Laubhaufen oder ein Blühstreifen, der nur selten gemäht wird – all das sind weitere Mittel, mit denen Insekten, Vögel und andere Nützlinge angelockt werden können und die gerne als Nahrungsquelle oder Unterschlupf angenommen werden.

Biene

Tipps und Hilfsmittel fürs naturnahe Gärtnern

Worauf es hierbei noch ankommt, weiß man auch bei toom. Die Baumarktkette hat ein wachsendes Angebot an „grünen“ Produkten, darunter bienenfreundliche Pflanzen, Sämereien und Blumenzwiebeln – zum Teil in Bio-Qualität –, torffreie Erden, Natursteine und nachhaltigere Pflanztöpfe. Besonders gegen Ende des Sommers, wenn der Anteil an blühenden und nutzbaren Pflanzen zurückgeht, können wir „durch eine kluge Arten- und Sortenwahl für ein vielfältiges Nahrungsangebot“ für Insekten sorgen, informiert toom. Weitere Tipps für einen lebendigen, bunten Garten mit vielen Ideen zum Selbermachen von toom gibt es hier.

Der Insekten- und Umweltschutz stehen bei toom schon seit langem ganz oben auf der Agenda. Bereits 2015 verbannte die Baumarktkette besonders bienengefährliche Mittel aus der Pflanzenproduktion und pflegt seither ein intensives Rückstandsmonitoring. Eigenen Angaben zufolge geht die interne Negativliste des Unternehmens weit über gesetzliche Bestimmungen hinaus. Ebenfalls 2015 stoppte toom den Verkauf von glyphosathaltigen Produkten in den Märkten und verpflichtete sich ein Jahr später, Schritt für Schritt den Torfgehalt in den verkauften Blumenerden zu reduzieren. Bis 2025 will das Unternehmen auf ausschließlich torffreie Erden umsteigen.

Wie Sie mit gutem Gewissen gärtnern können, erfahren Sie auch hier.

Quelle: UmweltDialog
 

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