Lieferkettengesetz: Merz fordert Korrektur – Metsola verteidigt Parlamentsautonomie
Bundeskanzler Friedrich Merz hat die Entscheidung des Europaparlaments zum Lieferkettengesetz scharf kritisiert und als „fatale Fehlentscheidung" bezeichnet. EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola weist die Forderung nach einer Korrektur entschieden zurück und verteidigt die demokratische Unabhängigkeit der Institution. Der Streit offenbart tiefe Gräben in der europäischen Politik.
23.10.2025
Das Europaparlament hat mit seiner Entscheidung zum Lieferkettengesetz nicht nur einen mühsam ausgehandelten Kompromiss zu Fall gebracht, sondern auch einen offenen Konflikt zwischen dem deutschen Bundeskanzler und der Spitze des Parlaments ausgelöst. Am Mittwoch stimmte eine knappe Mehrheit der Abgeordneten dafür, noch keine finalen Verhandlungen mit den EU-Staaten über die Abschwächung des Gesetzes aufzunehmen. Damit muss das Parlament im November erneut über den Inhalt des Vorhabens abstimmen und könnte in den entscheidenden Verhandlungen für strengere oder deutlich schwächere Regeln eintreten.
Friedrich Merz reagierte mit ungewöhnlicher Schärfe auf die Abstimmung. „Die gestrige Entscheidung des Europäischen Parlaments ist inakzeptabel", sagte der Bundeskanzler am Donnerstag vor Beginn des EU-Gipfels in Brüssel. „Das ist eine fatale Fehlentscheidung und die muss korrigiert werden." Merz forderte das Parlament auf, die Entscheidung noch einmal zu überdenken und verwies darauf, dass die EU-Staats- und Regierungschefs bereits eine Korrektur der Richtlinie beschlossen hätten. Die Lage der Wirtschaft in der EU sei dramatisch, betonte der Kanzler. Es brauche jetzt wirklich schnelle Entscheidungen, um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie wiederherzustellen, die im Augenblick dramatisch verloren gehe. Er mache sich allergrößte Sorgen um die Arbeitsplätze in ganz Europa, in der Industrie.
EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola wies diese Einmischung aus Berlin am Rande des Gipfels klar zurück. „Ich würde die demokratische Unabhängigkeit und die institutionelle Befugnis des Parlaments, seine Position zu verteidigen und die Bürger zu vertreten, nicht infrage stellen", stellte Metsola unmissverständlich klar. Gleichzeitig betonte sie, es gehe nun um Pragmatismus und darum, einen Kompromiss zu finden. Die klaren Worte der Parlamentspräsidentin machen deutlich, dass sich das Europaparlament nicht in seine Entscheidungsfindung hineinreden lassen will, auch nicht von der Regierung des wirtschaftlich stärksten Mitgliedstaats.
Besonders brisant ist, dass die Europäische Volkspartei, zu der auch CDU und CSU gehören, zusammen mit den Sozialdemokraten und den Liberalen im Rechtsausschuss eigentlich bereits einen Kompromiss ausgehandelt hatte. Die drei Fraktionen arbeiten normalerweise in einer Art informeller Koalition zusammen und verfügen über eine knappe Mehrheit im Parlament. In der geheimen Abstimmung müssen jedoch Abgeordnete aus den eigenen Reihen von der Fraktionslinie abgewichen sein. Viele im Parlament gehen davon aus, dass vor allem Sozialdemokraten gegen den Kompromiss gestimmt haben, weil ihnen die vorgeschlagene Abschwächung zu weit ging.
Die Grünen-Abgeordnete Anna Cavazzini jubelte nach der Abstimmung regelrecht. „Das ist der Super-Gau für die EVP", teilte sie mit. Das sei ein Denkzettel für die Erpressungstaktik und Drohungen der EVP, mit Rechtsaußen-Parteien abzustimmen. Auch Sozialdemokraten hätten gegen das Vorhaben gestimmt. Aus der EVP kam hingegen vehemente Kritik an den Sozialdemokraten. Der Kompromiss habe nicht gehalten, weil sich Teile der Sozialdemokraten nicht an eine Vereinbarung halten könnten, hieß es aus Kreisen der Europäischen Volkspartei. Dank der Stimmen von Rechts- und Linksradikalen und Teilen der Sozialdemokratie müssten viele Unternehmen in Europa nun unnötig warten. Das sei unverantwortlich.
Der Verband der Automobilindustrie sprach von einer vertanen Chance, den industriellen Mittelstand zu entlasten. Die Wirtschaftsverbände hatten auf den Kompromiss gesetzt, der eine deutliche Entschärfung des Gesetzes bedeutet hätte. Im Rechtsausschuss war unter anderem vereinbart worden, dass die Vorgaben nur noch für Großunternehmen mit mehr als 5.000 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von mindestens 1,5 Milliarden Euro gelten sollten. Ursprünglich waren als Grenze 1.000 Mitarbeiter und eine Umsatzgrenze von 450 Millionen Euro vorgesehen. Zudem sollten Unternehmen, die gegen die Regeln verstoßen, auf EU-Ebene keiner zivilrechtlichen Haftung mehr unterliegen.
Das europäische Lieferkettengesetz, offiziell Corporate Sustainability Due Diligence Directive genannt, wurde eigentlich bereits im vergangenen Jahr beschlossen. Ziel der Richtlinie ist es, Menschenrechte weltweit zu stärken. Große Unternehmen sollen zur Rechenschaft gezogen werden können, wenn sie von Menschenrechtsverletzungen wie Kinder- oder Zwangsarbeit in ihren Lieferketten profitieren. Nach massiver Kritik von Unternehmensverbänden sollten Teile der Richtlinie nun vereinfacht werden, noch bevor sie überhaupt zur Anwendung kommen. Genau diese Abschwächung ist vorerst gescheitert.
Im Hintergrund tobt ein politischer Machtkampf, der weit über die konkrete Gesetzgebung hinausgeht. Der EVP-Verhandlungsführer Jörgen Warborn soll in den Verhandlungen damit gedroht haben, durch eine Mehrheit mit rechten bis rechtsextremen Kräften noch stärkere Änderungen an dem Vorhaben zu fordern. Auf die Kritik an dieser Erpressungstaktik angesprochen, sagte Warborn bei einer Pressekonferenz lediglich, er sei sehr auf die Ergebnisse fokussiert. Es sei gut, dass es im Rechtsausschuss eine Mehrheit mit Sozialdemokraten und Liberalen gebe, da sich Europa in einer problematischen Situation befinde.
Die Drohung, künftig mit rechten Fraktionen zusammenzuarbeiten, wird von vielen Beobachtern als gefährlicher Präzedenzfall gewertet. Die bisherige informelle Koalition aus EVP, Sozialdemokraten und Liberalen, die über Jahre hinweg die Mehrheit im Parlament stellte, scheint zunehmend brüchig zu werden. Die Frage ist nun, ob die EVP tatsächlich bereit wäre, ihre bisherigen Partner links liegen zu lassen und stattdessen mit rechtspopulistischen oder rechtsextremen Fraktionen zu paktieren, um wirtschaftsfreundliche Gesetzgebung durchzusetzen.
Für die betroffenen Unternehmen bedeutet das Scheitern des Kompromisses vor allem eines: weitere Unsicherheit. Viele hatten gehofft, durch die geplante Abschwächung endlich Klarheit über die künftigen Anforderungen zu bekommen. Stattdessen droht eine Verlängerung der Hängepartie. Im November wird das Parlament erneut über die Ausrichtung des Gesetzes entscheiden müssen. Die Fronten sind verhärtet, und es ist völlig offen, ob dann eine Mehrheit für eine strengere, eine schwächere oder überhaupt keine Regelung zustande kommt.
Der Konflikt um das Lieferkettengesetz steht exemplarisch für eine grundsätzliche Auseinandersetzung in Europa: Wie viel Regulierung ist notwendig, um ethische Standards und Menschenrechte zu schützen? Und wo beginnt eine Überregulierung, die die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen gefährdet? Diese Fragen werden die europäische Politik noch lange beschäftigen, weit über das Lieferkettengesetz hinaus.