Wie die EU ihre Vorreiterrolle bei Unternehmensverantwortung aufgibt
Nach jahrelangem Ringen um strengere Regeln schwächt das EU-Parlament seine eigene Nachhaltigkeitsrichtlinie dramatisch ab. Tausende Unternehmen werden künftig nicht mehr zur Rechenschaft gezogen, wenn in ihren Lieferketten Menschenrechte verletzt oder die Umwelt zerstört wird. Kritiker sprechen von einem historischen Fehler mit globalen Folgen.
21.10.2025
Der Rechtsausschuss des Europäischen Parlaments hat am Montag mit deutlicher Mehrheit dafür gestimmt, die erst im vergangenen Jahr verabschiedete Richtlinie zur unternehmerischen Sorgfaltspflicht erheblich abzuschwächen. Was ursprünglich als Meilenstein für mehr Unternehmensverantwortung gefeiert wurde, droht nun zu einem zahnlosen Tiger zu werden. Die Abstimmung fiel mit 17 zu 6 Stimmen bei zwei Enthaltungen klar aus und markiert einen Wendepunkt in der europäischen Nachhaltigkeitspolitik.
Die Corporate Sustainability Due Diligence Directive, kurz CSDDD, sollte Unternehmen dazu verpflichten, ihre gesamten Lieferketten auf Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden zu überprüfen und dagegen vorzugehen. Bei Verstößen drohten Strafen von bis zu fünf Prozent des weltweiten Jahresumsatzes. Doch diese ambitionierten Pläne werden nun auf einen Bruchteil ihrer ursprünglichen Reichweite zusammengestutzt.
Nach den neuen Vorschlägen würde die Richtlinie künftig nur noch für Unternehmen mit mindestens 5.000 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von 1,5 Milliarden Euro gelten. Zum Vergleich: Die bisherigen Schwellenwerte lagen bei 1.000 Mitarbeitern und 450 Millionen Euro Umsatz. Diese drastische Anhebung bedeutet in der Praxis, dass Tausende von Unternehmen aus der Pflicht entlassen werden. Besonders betroffen sind Hochrisikosektoren wie die Textilindustrie, Landwirtschaft und der Bereich erneuerbare Energien, in denen überdurchschnittlich viele mittlere Unternehmen tätig sind.
Die Europäische Kommission hatte ursprünglich vorgeschlagen, die Zahl der berichtspflichtigen Unternehmen um 80 Prozent zu reduzieren. Was im Ausschuss nun beschlossen wurde, liegt zwar unter dieser extremen Marke, stellt aber dennoch eine dramatische Kehrtwende dar. Jörgen Warborn, der Berichterstatter aus der konservativen Europäischen Volkspartei, verteidigte die Entscheidung mit dem Argument der Vereinfachung: Man schaffe Planungssicherheit für europäische Unternehmen, senke Kosten, stärke die Wettbewerbsfähigkeit und halte gleichzeitig am grünen Wandel fest.
Doch Menschenrechtsorganisationen und Umweltverbände sehen das anders. Walk Free, eine internationale Organisation gegen moderne Sklaverei, warnt eindringlich vor den Folgen der Abschwächung. Die vorgeschlagenen Änderungen würden Jahre des Fortschritts bei der Unternehmensverantwortung zunichtemachen und die Führungsrolle der EU beim verantwortungsvollen Wirtschaften untergraben. Zivilgesellschaftliche Gruppen, Investoren und Rechtsexperten befürchten, dass die Richtlinie ihres eigentlichen Zwecks beraubt wird: Ausbeutung und Umweltschäden in Lieferketten zu verhindern und zu beheben.
Besonders umstritten ist die Streichung der Verpflichtung, einen EU-weiten zivilrechtlichen Haftungsrahmen zu entwickeln. Diese Entscheidung macht es für Opfer von Menschenrechtsverletzungen erheblich schwerer, Unternehmen zur Rechenschaft zu ziehen. Zudem wurde die Anforderung gestrichen, dass Unternehmen Klimatransitionspläne erstellen müssen. Diese Maßnahme galt als Schlüsselinstrument, um Geschäftsaktivitäten mit den Klima- und Menschenrechtsverpflichtungen der EU in Einklang zu bringen.
Der Druck auf die Gesetzgeber kam aus verschiedenen Richtungen. Einige europäische Industrien und politische Gruppen forderten eine Entlastung der Unternehmen und einfachere Compliance-Regeln. Mehrere Regierungen, darunter Frankreich und Deutschland, äußerten bereits Unterstützung für eine Eingrenzung des Anwendungsbereichs und verwiesen auf Bedenken hinsichtlich der Wettbewerbsfähigkeit. Überraschenderweise kam auch internationaler Lobbyismus hinzu: Länder wie die Vereinigten Staaten und Katar setzten die EU unter Druck, die Reichweite der Richtlinie für ausländische Unternehmen zu begrenzen.
Die Konsequenzen der Abschwächung reichen weit über Europa hinaus. Viele Länder weltweit, darunter Australien, Thailand und Indonesien, beobachten die Entwicklungen in der EU genau, da sie selbst die Einführung ähnlicher Sorgfaltspflichten erwägen. Die anhaltende Debatte und Unsicherheit in Europa gefährdet nicht nur den Fortschritt auf dem Kontinent, sondern könnte auch globale Bemühungen um mehr Unternehmensverantwortung ausbremsen.
Die Abstimmung des Rechtsausschusses ermöglicht nun den Beginn von Verhandlungen zwischen dem Europäischen Parlament und den EU-Mitgliedstaaten. Allerdings könnte in den kommenden Wochen noch eine Abstimmung im Plenum des Parlaments beantragt werden. Trotz des Rückschlags appellieren zahlreiche Abgeordnete, Investoren und Interessenverbände weiterhin an die EU-Führung, eine starke und wirksame CSDDD aufrechtzuerhalten, die Menschen und Planeten schützt, statt kurzfristige politische oder wirtschaftliche Gewinne zu priorisieren.
Was auf dem Spiel steht, ist mehr als nur eine Richtlinie. Es geht um die Frage, ob Europa bereit ist, seine Werte auch dann zu verteidigen, wenn es unbequem wird. Ob Textilarbeiter in Bangladesch, Kinder in kongolesischen Kobaltminen oder indigene Gemeinschaften im Amazonas: Sie alle könnten die Leidtragenden einer Politik sein, die wirtschaftliche Interessen über grundlegende Rechte stellt. Die kommenden Verhandlungen werden zeigen, ob die EU zu ihrem Anspruch steht, Vorreiterin für eine soziale und ökologische Marktwirtschaft zu sein, oder ob sie diesen Anspruch aufgibt, sobald es ernst wird.