Verteilungsgerechtigkeit

Jedes dritte Kind in Deutschland fühlt sich unbeachtet

Eine aktuelle Studie der Bepanthen-Kinderförderung belegt: Mangelnde Achtsamkeit kann gravierende Folgen für die Entwicklung des Kindes haben. Schirmherrin Katia Saalfrank fordert daher mehr Dialog statt Monolog in der Erziehung.

04.07.2017

Wenn über Achtsamkeit gesprochen wird, ist damit meist die Wahrnehmung der eigenen Praktiken, Emotionen und Bedürfnisse gemeint – also die Aufmerksamkeit sich selbst gegenüber. Doch wie steht es um die Achtsamkeit in Bezug auf die Menschen, die einem am nächsten stehen, die eigene Familie?

Die aktuelle Studie „Achtsamkeit in Deutschland: Kommen unsere Kinder zu kurz?“ wurde von der Universität Bielefeld im Auftrag der Bepanthen-Kinderförderung durchgeführt. Professor Doktor Holger Ziegler, Sozialpädagoge und Studienleiter, hat untersucht, wie die Achtsamkeit der Eltern von Kindern (sechs bis elf Jahre) und Jugendlichen (zwölf bis sechzehn Jahre) empfunden wird und welche Auswirkungen das Fehlen von Beachtung haben kann.

Das Ergebnis ist beunruhigend: Fast jedes dritte Kind (31 Prozent) und jeder fünfte Jugendliche (17 Prozent) fühlen sich von ihren Eltern nicht beachtet. Das sind insgesamt 1,9 Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland. Mit gravierenden Folgen: Nicht beachtete Kinder und Jugendliche weisen Defizite in ihrem Selbstbewusstsein, Vertrauen, ihrer Lebenszufriedenheit und Empathiefähigkeit auf. Professor Doktor Holger Ziegler warnt: „Wenn Kinder das Gefühl haben, dass innerhalb der Familie nicht auf ihre Bedürfnisse eingegangen wird, ist das eine erschreckende Erkenntnis. Denn nicht vorhandene Achtsamkeit ist für die Entwicklung von Kindern so gravierend wie ein Leben in Armut.“

Die Studie zeigt jedoch auch: Achtsamkeit gegenüber Kindern wird unabhängig vom sozioökonomischen Status, der Familienkonstellation und vom Migrationshintergrund gelebt. Das bedeutet, dass Achtsamkeit weder ein Privileg wohlhabender Menschen noch der Familie im traditionellen Sinn ist. „Die Beziehungsqualität in Familien in ihren verschiedensten Formen, wie beispielsweise in Patchworkfamilien, ist einzigartig. Nur im Familienverbund gibt es die Form der bedingungslosen Liebesbeziehung, das kann keine Institution kompensieren“, erklärt der Studienleiter.

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Wie erleben Kinder Achtsamkeit?

Ob die Befragten sich insgesamt unbeachtet oder beachtet fühlen, wurde in der Bewertung verschiedener grundsätzlicher Aussagen, wie zum Beispiel „Meine Eltern merken, ob es mir gut geht“, oder „Meine Eltern hören mir ganz genau zu, wenn ich etwas sage“, zusammengefasst. Anhand der daraus resultierenden Unterteilung in beachtete und unbeachtete Kinder wurden diese beiden Gruppen in Bezug auf ihre Wahrnehmung von Achtsamkeit analysiert sowie die Auswirkungen mangelnder Achtsamkeit definiert.

Die Achtsamkeitsunterschiede zeigen sich im Alltäglichen. Eine Nachfrage, wie der Tag war, gemeinsame Unternehmungen und Zuneigungsbekundungen wie „Ich hab dich lieb“ zeigen die für Kinder so wichtige Aufmerksamkeit und Zuwendung. Dies scheint aber nicht überall die Regel zu sein, denn mehr als zwei Drittel (71 Prozent) der empfunden unbeachteten Kinder stimmen der Frage, ob ihre Eltern sich gerne mit ihnen beschäftigen, nicht zu.

Auch bei der emotionalen Verfassung ihrer Sprösslinge sollten Eltern genauer hinsehen: 78 Prozent der sich beachtet fühlenden Kinder sagen, dass ihre Eltern ihre Gemütslagen, wie zum Beispiel Kummer, erkennen. Bei den Jugendlichen sind es 65 Prozent. Auch geben sie an, dass die Eltern dazu entsprechende Fragen stellen. Bei den nicht beachteten Kindern erfährt hingegen lediglich die Hälfte diese Fürsorge, bei den Jugendlichen sogar nur ein Viertel.

Neben dem Interesse der Eltern ist auch die Unterstützung der Kinder und Jugendlichen essenziell. Sie geht über die bloße materielle Versorgung hinaus. Das vermittelte Zutrauen in die Fähigkeiten der Kinder ist ein wichtiger Faktor für die Entwicklung des Selbstvertrauens. Eine solche Unterstützung erfahren 81 Prozent der beachteten Kinder.

Bei den unbeachteten Kindern erlebt dies nur rund die Hälfte. Schwieriger ist diese Situation bei Jugendlichen, von denen lediglich 44 Prozent ein solches Zutrauen wahrnehmen.

Auch die Ermutigung der Eltern, dem eigenen Urteil zu folgen, ist ein wichtiger Baustein in der Persönlichkeitsentwicklung. Rund zwei Drittel der beachteten Kinder spüren das elterliche Vertrauen. Bei den Jugendlichen ist es gut die Hälfte. 66 Prozent bzw. 78 Prozent der unbeachteten Kinder und Jugendlichen fehlt diese Hilfestellung.

Ein Drittel aller Kinder fühlt sich von seinen Eltern wenig bis gar nicht beachtet. Insgesamt sind es 1,9 Millionen Kinder und Jugendliche, die elterliche Achtsamkeit vermissen.zoom
Ein Drittel aller Kinder fühlt sich von seinen Eltern wenig bis gar nicht beachtet. Insgesamt sind es 1,9 Millionen Kinder und Jugendliche, die elterliche Achtsamkeit vermissen.

Das Gefühl der Geborgenheit geht verloren

Die Befragung zeigt auch die besondere Eigenschaft der Familie, Geborgenheit zu schenken, was die meisten der beachteten Kinder bestätigen: Nur zwei Prozent äußern diesen Mangel. Dagegen ist es bei den nicht beachteten Kindern fast ein Fünftel (19 Prozent), dem ein Gefühl von Geborgenheit fehlt.

Bei den Jugendlichen geht die Schere noch weiter auseinander: 11 Prozent der beachteten und fast die Hälfte (46 Prozent) der nicht beachteten Jugendlichen empfinden keine Geborgenheit bei ihren Eltern.

Diese Werte sind alarmierend. Ziegler: „Die Erwartung sollte sein, dass Kinder sich in ihrem Zuhause zu 100 Prozent geborgen fühlen. Jedes Kind, das dies nicht erlebt, ist eines zu viel.“
Auch auf die Frage nach der Lebenszufriedenheit gibt es beunruhigende Rückmeldungen: Eine allgemeine Zufriedenheit mit sich selbst und ihrem Leben empfinden nur etwas mehr als die Hälfte (53 Prozent) aller Kinder. Noch schlechter sieht es bei den nicht beachteten Kindern und Jugendlichen aus: Hier bestätigen dies nur 41 bzw. 38 Prozent.

Empathie muss erfahren werden

Ein Ergebnis der Studie gibt den Bielefelder Forschern besonders zu denken: Nur 54 Prozent der befragten Kinder geben an, dass sie sich in andere hineinversetzen können und mit ihnen mitfühlen. Bei den nicht beachteten Kindern sind es sogar nur 40 Prozent, bei den Jugendlichen bedenkliche 29 Prozent.

Woran kann das liegen? Ziegler sieht die Ursachen unter anderem in der gesellschaftlichen Entwicklung: „Die Gesellschaft fühlt nicht mehr mit. Die Vermittlung von Solidaritätswerten nimmt ab – auch in der Erziehung.“

Die Schirmherrin der Bepanthen-Kinderförderung, Familienberaterin Katia Saalfrank, möchte sensibilisieren: „Empathie entsteht, wenn Menschen selbst empathische Menschen erleben und Mitgefühl erfahren. Die Erfahrung, dass Zuwendung und Einfühlung Verbindung schaffen und sich gut anfühlen, ist ein essenzieller Schritt zum Erlernen dieser Fähigkeit. Menschen spüren in dieser Form von Kontakt, dass gegenseitige Empathie positive Gefühle und Vertrauen wachsen lässt.“

Kinder bleiben mit ihren Ängsten allein

Auch das Teilen der eigenen Ängste und Sorgen gehört zu diesem Lern- und Erfahrungsprozess. Die Studie zeigt jedoch, dass Kinder und Jugendliche hier häufig allein bleiben. 29 Prozent aller befragten Kinder und sogar die Hälfte (48 Prozent) der nicht beachteten Kinder teilen ein konkretes Angstempfinden nicht mit den Eltern.
Noch deutlicher wird diese Entwicklung, wenn es um allgemeine Sorgen geht. Mehr als zwei Drittel (69 Prozent) der nicht beachteten Kinder vertrauen diese ihren Eltern nicht an, bei den nicht beachteten Jugendlichen sind es sogar 94 Prozent. Katia Saalfrank sieht hier eine Wechselwirkung: „Wenn Eltern die Ängste ihrer Kinder nicht wahrnehmen oder als unwichtig abtun, lernen Kinder, dass ihre Gefühle nicht wichtig sind. Sie werden sich dann langfristig ihren Eltern gegenüber nicht öffnen. Sie lernen zu schweigen oder werden in ihrem Verhalten auffällig. So oder so fühlen Kinder sich nicht gehört und mit ihren Anliegen nicht willkommen, was dann zur Folge hat, dass sie auch in ihrer späteren Entwicklung mit ihren Sorgen und Gedanken allein bleiben.“

Achtsamkeit für sich selbst und andere

Ziegler gibt bei der Bewertung dieser Ergebnisse zu bedenken: „Die Achtsamkeit, die Kinder und Jugendliche empfinden, ist in einem hohen Maße mit dem Wohlergehen, der Selbstbeziehung und einer breiten Reihe von Problemlagen der jungen Menschen verknüpft. Hier zeigt sich die Bedeutung der Familie als zentrales Fundament von Liebes-Sorge-Beziehungen.“

Wie also können Eltern die Achtsamkeit gegenüber ihren Kindern verbessern und deren Entwicklung fördern? Saalfrank: „Eigene emotionale Bedürfnisse wahrzunehmen, sie zu erkennen und zu befriedigen, ist wichtig für die seelische und körperliche Entwicklung des Menschen. Eltern übernehmen das zunächst für die Kinder, indem sie die wahrgenommenen Bedürfnisse achtsam regulieren und Gefühle benennen. So können Kinder langfristig ihre eigene, emotionale Landkarte‘ kennenlernen.“ Dies bedeutet jedoch auch, zunächst einmal Achtsamkeit für sich selbst zu entwickeln.

Katia Saalfrank weiß: „Selbstreflexion ist ein guter Weg, achtsam mit sich und den eigenen Kindern umzugehen. Die konstruktive, vertrauensvolle und wertschätzende Beziehung im Mittelpunkt der Eltern-Kind-Beziehung ist enorm wichtig für eine gesunde Entwicklung von Kindern. Ich bespreche mit Eltern: Seid offen, unvoreingenommen, zugewandt und interessiert, bewertet nicht, hört zu und fragt nach. Aus Monolog wird Dialog. Nicht die Quantität, sondern die Qualität der gemeinsam erlebten Zeit ist wichtig.“

Aber nicht jede Familie kann dies leisten. „Wo solche Voraussetzungen nicht gegeben sind, bietet die Arche Hilfe zum wichtigen Beziehungsaufbau an“, so Bernd Siggelkow, Gründer des Kinder- und Jugendhilfswerks „Die Arche“.

Quelle: UD/cp
 

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