Wenn Schweigen zur Überlebensstrategie wird: Chinas Zivilgesellschaft im Würgegriff des Staates
In China verschwinden zivilgesellschaftliche Handlungsspielräume nahezu vollständig. Aktivisten landen im Gefängnis, unabhängige Gewerkschaften werden verboten, kritische Stimmen verstummen. Eine aktuelle Studie des Südwind-Instituts zeigt, wie die Regierung unter Xi Jinping durch neue Gesetze systematisch jeden Widerstand im Keim erstickt und dabei selbst im Ausland lebende Chinesen bedroht.
13.10.2025
Xi Jinping und die Zerschlagung der Zivilgesellschaft
Die Szene wirkt wie aus einem Alptraum: Zeng Feiyang, Direktor einer Arbeitsrechtsorganisation in Guangzhou, steht vor Gericht. Sein Verbrechen besteht darin, dass er Arbeiter einer Schuhfabrik unterstützt hatte, die sich gegen ihren Arbeitgeber zur Wehr setzten. Jahre Gefängnis werden verhängt, später teilweise ausgesetzt, doch der Preis ist hoch. Zeng wird zu einem öffentlichen Geständnis gezwungen, in dem er sich für seine angeblichen kriminellen Handlungen entschuldigt und andere davor warnt, sich von ausländischen Organisationen täuschen zu lassen. Das Panyu Migrant Workers Center, das er leitete, wird verboten. Ein Einzelfall? Mitnichten. Es ist vielmehr symptomatisch für eine Entwicklung, die China in den vergangenen Jahren durchlaufen hat.
Seit dem Amtsantritt Xi Jinpings vor mehr als einer Dekade schrumpfen die Freiräume für zivilgesellschaftliches Engagement kontinuierlich. Das Südwind-Institut in Bonn hat in einer umfassenden Studie dokumentiert, wie systematisch die chinesische Führung gegen jede Form unabhängiger Organisation vorgeht. Die Niederschlagung der Freiheitsbewegung in Hongkong, die Unterdrückung der Uiguren im Westen des Landes, das Verbot unabhängiger Arbeitsrechtsorganisationen – all dies hat dazu geführt, dass eine organisierte Zivilgesellschaft in China praktisch nicht mehr existiert. Systemkritische Stimmen sind kaum noch zu vernehmen, zahlreiche Aktivisten wurden inhaftiert, verschwanden spurlos oder mussten ins Exil fliehen.
Die Parallelen zur Geschichte sind offensichtlich. Die aktuelle Unterdrückung erinnert an die großangelegten politischen Säuberungen unter Mao Zedong oder die brutale Niederschlagung der Tian'anmen-Proteste im Juni 1989. Doch während damals noch internationale Empörung folgte und westliche Staaten zumindest kurzzeitig Konsequenzen zogen, scheint die Weltgemeinschaft heute angesichts der wirtschaftlichen Macht Chinas weitgehend hilflos oder unwillig, wirksam zu reagieren.
Arbeitsrechte unter staatlicher Kontrolle
Besonders deutlich werden die Folgen dieser Repression in der Textilindustrie, einem der wichtigsten Exportsektoren Chinas. Millionen Menschen arbeiten hier, viele unter prekären Bedingungen. Textilien und Bekleidung gehören zu den bedeutendsten Liefergütern für Deutschland und die Europäische Union. Doch während in den 90er und 2000er Jahren noch regelmäßig Berichte über Arbeitsbedingungen erschienen, ist die Informationslage heute dünn geworden. Der Grund ist einfach: Unabhängige Befragungen von Beschäftigten sind praktisch unmöglich geworden, ohne die Befragten massiven Risiken auszusetzen.
Neue Methoden mussten entwickelt werden, um überhaupt noch Einblick in die Arbeitswelten zu erhalten. Organisationen wie das China Labour Bulletin oder die schwedische Initiative Globalworks werten chinesische Webseiten und Social-Media-Plattformen aus, auf denen Beschäftigte Anfragen stellen, sich beschweren oder ihren Arbeitsalltag schildern. Was sie dabei zutage fördern, ist alarmierend: Löhne liegen selbst mit Überstunden weit unter dem Existenzminimum, exzessive Überstunden ohne angemessene Bezahlung sind die Regel, Kündigungen werden behindert, informelle Beschäftigung ohne Arbeitsvertrag und Sozialversicherung hat seit der Corona-Pandemie stark zugenommen.
Nicht gezahlte Löhne sind nach den Erkenntnissen des China Labour Bulletin die häufigste Ursache für Arbeitskonflikte. Wenn Beschäftigte entlassen werden, schulden Arbeitgeber ihnen oft mehrere Monatslöhne. Ein aktueller Fall aus Shanghai zeigt exemplarisch die Problematik: Eine Heimtextil-Fabrik, die hauptsächlich für IKEA produzierte, sollte in eine andere Provinz verlegt werden. Allen Beschäftigten wurde gekündigt, die gesetzlich zustehende Abfindung aber nur auf Grundlage des regulären Lohns berechnet, ohne die zahllosen Überstunden zu berücksichtigen. Die Fabrikgewerkschaft, die dem staatlichen Allchinesischen Gewerkschaftsbund angehört, unternahm nichts. Erst als die Beschäftigten protestierten und das China Labour Bulletin IKEA kontaktierte, reagierte der Konzern und sorgte für eine Neuberechnung.
Dieser Fall zeigt zweierlei: Zum einen können internetgestützte Tools zu konkreten Verbesserungen führen, wenn internationale Großkunden mit Handlungsmacht einbezogen werden. Zum anderen bleibt dies die Ausnahme. Die meisten Proteste von Beschäftigten bleiben auf Betriebsebene beschränkt und haben nur dann Erfolg, wenn die Partei dies zur Wahrnehmung des sozialen Friedens zulässt.
Von rechtlichen Fortschritten zur totalen Kontrolle
Dabei war die Entwicklung nicht immer so düster. In den 90er und 2000er Jahren verabschiedete China verschiedene Gesetze zugunsten der Beschäftigten, die auch heute noch gelten. Das Gewerkschaftsgesetz, das Arbeitsgesetz, das Arbeitsvertragsgesetz sowie das Gesetz zur Schlichtung von Arbeitskonflikten schufen einen rechtlichen Rahmen, der durchaus Ansätze zum Schutz der Industriearbeiter bot. Millionen Menschen konnten sich aus der Armut befreien. Doch die Umsetzung dieser Gesetze blieb lückenhaft, und ohne unabhängige Gewerkschaften fehlte es an effektiven Durchsetzungsmechanismen.
Genau hier setzten zunächst Arbeitsrechtsorganisationen an, die sich für bessere Arbeitsbedingungen einsetzten. Doch unter Xi Jinping wurden diese Freiräume systematisch geschlossen. Neue Gesetze wie das NGO-Gesetz von 2017, das Anti-Spionage-Gesetz, das Anti-Sanktionsgesetz und das Anti-Terror-Gesetz geben den Behörden weitreichende Befugnisse zur Überwachung und Kontrolle. Ausländische NGO müssen sich registrieren, eng mit chinesischen Partnerorganisationen zusammenarbeiten und regelmäßige Berichte einreichen. Verstöße können zu Geldstrafen, Ausweisung oder strafrechtlicher Verfolgung führen.
Besonders perfide ist, dass diese Gesetze bewusst vage formuliert sind. Das Anti-Spionage-Gesetz etwa ermächtigt staatliche Stellen zu umfassenden Ermittlungen gegen jeden, der verdächtigt wird, die nationale Sicherheit zu gefährden. Die Definition dessen, was Spionage ist, bleibt dabei absichtlich unscharf. Das schafft ein Klima der Angst und Unsicherheit, in dem selbst harmlose Tätigkeiten als verdächtig gelten können. Bürger und Organisationen sind verpflichtet, mit den Behörden zusammenzuarbeiten, wer sich weigert, muss mit Strafen rechnen.
Kampf gegen westliche Einflüsse
Die chinesische Führung macht keinen Hehl daraus, dass sie westliche Einflüsse als Gefahr betrachtet. Das interne Dokument Nummer neun aus dem Jahr 2012 identifiziert sieben gefährliche westliche Einflüsse, darunter westliche Demokratie, universelle Werte, eine unabhängige Zivilgesellschaft und das westliche Verständnis von Journalismus. Das Dokument fordert Parteimitglieder auf, diese „Gefahren“ zu bekämpfen, Medien streng zu kontrollieren und falsche Ideen zu verhindern.
China gilt heute als das größte Gefängnis für Medienschaffende weltweit. Zensur und Überwachung haben ein extremes Ausmaß erreicht, Informationen werden kontrolliert, Kommunikation überwacht und kritische Medien praktisch ausgeschaltet.
Überwachung kennt keine Grenzen
Besonders beunruhigend ist, dass chinesische Aktivisten selbst im Ausland nicht sicher sind. China gehört zu den Staaten, die eigene Staatsbürger im Exil mit Überwachung, Einschüchterung und Gewalt bedrohen. Diese transnationale Repression findet auch in Deutschland statt. Exil-Chinesen berichten von Druck, ihre Familien in der Heimat werden bedroht. Laut dem CIVICUS Monitor gehört China zu den 28 Staaten weltweit, die als geschlossene Gesellschaft eingestuft werden.
Eine chinesische Forscherin, die in den 2000er Jahren noch Arbeiter im Perlflussdelta unterstützte, fasst die Situation nüchtern zusammen: In China existieren die meisten in der Verfassung verankerten Bürgerrechte nur auf dem Papier. Das gilt auch für Arbeitsrechte. Angestellte und Arbeiter haben theoretisch das Recht, sich in Gewerkschaften zu organisieren, doch in der Realität dürfen sie nur der offiziellen Gewerkschaft beitreten. China ist zunehmend autoritär geworden, jede Form von sozialem Protest wird unerbittlich unterdrückt.
Ein anderer ehemaliger Aktivist beschreibt die Kontrolle über Informationen: Die Meinungsfreiheit wird stark eingeschränkt, besonders durch Zensur im Internet. Der autoritäre Staat muss den freien Informationsfluss einschränken, um seine Legitimität zu wahren. Gleichzeitig haben die Menschen zu viel Ungerechtigkeit und Ausbeutung erlitten und müssen ihre Wut ausdrücken. Das Internet ist ein wichtiger Kanal dafür. Die Regierung fürchtet öffentliche Meinungsäußerungen, in denen sich Schmerz und Wut als Protest artikulieren. Immer mehr Menschen lernen, VPNs zu nutzen und Firewalls zu umgehen, um ihre Erfahrungen auf Plattformen wie Twitter zu posten. Diese Entwicklung stellt die staatliche Informationskontrolle auf eine harte Probe.
Verantwortung des Westens und seiner Unternehmen
Die Frage nach den Konsequenzen für westliche Staaten und Unternehmen ist nicht neu, hat aber angesichts der wirtschaftlichen Bedeutung Chinas an Brisanz gewonnen. Sanktionen scheinen kein geeignetes Mittel zu sein, wie die Reaktionen auf die Niederschlagungen der Tian'anmen-Proteste oder der Proteste in Hongkong zeigten. Nach kurzer Zeit des Rückzugs folgte stets ein neuer Aufschwung der Beziehungen, ohne dass China an seiner Politik etwas änderte.
Das Südwind-Institut empfiehlt dennoch, die eigenen Werte offensiv zu vertreten und deutlich zu machen, dass Menschenrechtsverbrechen nicht unter den Tisch gekehrt werden dürfen. Bei Kooperationen und Lieferketten müsse darauf geachtet werden, dass chinesische Partner nicht direkt an Repressionen beteiligt sind. Wo eine aktive Beteiligung bekannt wird, muss ein verantwortungsvoller Rückzug eine Option sein.
Hoffnung auf den langen Atem
Die Aussichten auf eine Öffnung Chinas in Richtung Freiheit für zivilgesellschaftliche Organisationen sind gering. Von außen gibt es nur wenige Möglichkeiten der Einflussnahme, von innen scheint jeder Widerstand erfolgreich unterdrückt. Doch zeigen historische Erfahrungen und aktuelle Entwicklungen in anderen Ländern wie Bangladesch, dass sich Umbrüche lange unterhalb der internationalen Wahrnehmungsschwelle anbahnen können, bevor sie eine Gesellschaft verändern.
Ob und wann dies in China geschehen wird, bleibt ungewiss. Bis dahin bleibt Schweigen für viele Chinesen die einzige Überlebensstrategie.