Ziel verfehlt: Warum Unternehmen den Klimastandard SBTi verlassen
Die Science Based Targets initiative (SBTi) galt lange als das verlässlichste Framework für glaubwürdige Unternehmensklimaziele. Doch der Glanz ist verblasst: Immer mehr Firmen ziehen sich zurück – leise, aber entschieden. Was steckt dahinter? Und was bedeutet das für die Klimapolitik, UN-Ziele und das betriebliche Nachhaltigkeitsmanagement?
25.06.2025

Der SBTi-Standard in der Krise: Zu starr für die Realität?
„Die schleichende Abwanderung aus dem SBTi-Rahmen ist nicht unbedingt ein Scheitern unternehmerischer Klimaziele – vielmehr zeigt sie, dass das bestehende Modell von Anfang an zu starr für die Realität war“, schreibt Chris Hocknell in einem vielbeachteten Meinungsbeitrag auf Earth.Org.
Was einst als Goldstandard für wissenschaftlich fundierte Klimaziele eingeführt wurde, steht zunehmend unter Beschuss – nicht, weil das Ziel falsch wäre, sondern weil der Weg dorthin aus Sicht vieler Unternehmen als unpraktikabel gilt.
Was verlangt die SBTi?
- Absolute Emissionsminderungen von 90 Prozent über alle Scopes (1, 2, 3)
- Keine oder nur sehr eingeschränkte Möglichkeit zur Kompensation
- Strikte Zeitpläne und öffentlich validierte Zielsetzungen
Was passiert derzeit?
- Laut Hocknell haben rund 36 Prozent der Unternehmen ihre Scope-1- und 2-Ziele bereits verfehlt, 51 Prozent scheitern an Scope 3.
- Prominente Unternehmen wie Microsoft, Amazon oder Netflix sind von der Validierungsliste verschwunden.
- Selbst große Konsumgüterkonzerne wie Unilever oder Procter & Gamble haben ihre Ziele nicht mehr aktualisiert – teils aus Komplexitätsgründen, teils aus strategischem Kalkül.
Befürworter der SBTi halten dagegen: „Wenn der Weg hart wird, kann man nicht einfach die Wissenschaft ignorieren. Die Klimaphysik verhandelt nicht“, so ein Kommentator aus der NGO-Szene gegenüber Carbon Brief.
Doch genau darin liegt das Dilemma: Zwischen dem Anspruch wissenschaftlicher Integrität und der operativen Machbarkeit tut sich eine wachsende Lücke auf. Unternehmen haben vielfach die „low-hanging fruits“ – etwa Energieeffizienzmaßnahmen oder Grünstromnutzung – bereits realisiert. Die nächsten Schritte würden erheblich mehr Investitionen, technologische Sprünge oder tiefgreifende Geschäftsmodelländerungen erfordern.
Ein SBTi-Kritiker formuliert es so: „Der marginale Nutzen der nächsten Emissionsminderung ist kleiner, aber die Kosten steigen exponentiell – das ist für viele wirtschaftlich schlicht nicht mehr tragbar“, so Hocknell.
Hinzu kommt: Geopolitische Krisen, Inflation, hohe Zinsen und Lieferkettenunsicherheit machen große Investitionen in neue Technologien zurzeit riskant – insbesondere für börsennotierte Unternehmen unter kurzfristigem Renditedruck. Das Ergebnis ist ein doppelter Rückzug: aus der aktiven Teilnahme an SBTi und aus der öffentlichen Kommunikation. Dieses Phänomen hat längst einen Namen: Greenhushing.
Was fordert die Wirtschaft stattdessen?
- Mehr Flexibilität im Umgang mit schwer vermeidbaren Emissionen
- Ein Übergang von striktem „Net Zero“ zu praktikabler Carbon Neutrality
- Zulassung von hochwertigen Kompensationen als Teilstrategien
„Es ist kein Zeichen von Rückschritt, sondern von Realitätssinn, wenn Unternehmen ihre Nachhaltigkeitsziele neu kalibrieren – lieber glaubwürdige 60 Prozent als illusorische 90 Prozent“, meint ein ESG-Analyst aus London.
Doch hier scheiden sich die Geister: Für viele Klimaaktivisten ist jede Öffnung hin zu Kompensationen ein Rückfall in symbolische Emissionsreduktion – ein Greenwashing durch die Hintertür.
Was bedeutet das für betriebliche Klimastrategien und globale Klimaziele?
Der SBTi-Verlust ist mehr als ein Reputationsproblem – er hat direkte operative Folgen:
- Betriebliche Nachhaltigkeitsteams stehen zunehmend unter Druck: Wie lässt sich intern Motivation aufrechterhalten, wenn externe Zielsysteme kippen oder als unbrauchbar gelten?
- Investoren und Kreditgeber verlieren klare Bewertungsgrundlagen. Die Vergleichbarkeit ESG-bezogener Unternehmensziele sinkt – ein Rückschlag für die grüne Transformation der Finanzmärkte.
- Klimafinanzierung droht zu versiegen, wenn ambitionierte Ziele ohne realistische Roadmaps keinen Anreiz mehr darstellen.
- Der globale Klimarahmen der UN gerät unter Druck: Nationale Verpflichtungen basieren teils auf den Beiträgen von Unternehmen. Wenn diese implodieren, schwinden die Grundlagen für Fortschrittsberichte, Zwischenziele und den Paris-kompatiblen Klimapfad.
Besonders problematisch: Der Ausstieg großer Vorreiter schafft eine psychologische Legitimierung für Nachzügler, sich gänzlich aus der Verantwortung zu ziehen. Der Dominoeffekt droht – auch in Bezug auf andere freiwillige Standards, etwa im Bereich Lieferkettensorgfalt oder Biodiversität.
Fazit: Neue Ehrlichkeit statt neuer Versprechen
Der SBTi-Rückzug offenbart eine ernüchternde Wahrheit: Klimaschutz braucht weniger Symbolik und mehr Struktur. Weniger dogmatische Zielsysteme und mehr flexible Pfade. Weniger Druck auf Perfektion und mehr Bereitschaft zur pragmatischen Transformation.
Was es jetzt braucht, ist kein weiteres ambitioniertes Ziel – sondern ein Klima der Glaubwürdigkeit. Nur dann bleiben Unternehmen bereit, sich öffentlich zu verpflichten. Und nur dann bleibt die Hoffnung realistisch, die globale 1,5-Grad-Grenze überhaupt noch zu erreichen.