Nachhaltigkeitsstrategie: Deutschland zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Während die neue Bundesregierung die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie fortschreibt, offenbart der internationale Vergleich erhebliche Defizite beim Klimaschutz und eine zwiespältige Menschenrechtsbilanz. Trotz Erfolgen bei erneuerbaren Energien rutscht Deutschland im globalen Klimaschutz-Ranking ab.
29.10.2025
Die neue Bundesregierung aus CDU, CSU und SPD hat sich erneut zu den Zielen der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie bekannt und setzt damit einen Prozess fort, der seit 2002 kontinuierlich weiterentwickelt wird. Im Zentrum stehen die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen, die sogenannten „Sustainable Development Goals“. Die Strategie verbindet dabei Klimaschutz mit wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit und sozialem Ausgleich. Deutschland soll Industrieland bleiben und gleichzeitig bis 2045 klimaneutral werden. Ab 2026 will die Bundesregierung Verbraucher bei den Energiekosten um rund zehn Milliarden Euro jährlich entlasten. Im Wohnungsbau soll ein „Bau-Turbo“ den akuten Mangel an bezahlbarem Wohnraum beheben.
Doch die Realität fällt deutlich ernüchternder aus als die ambitionierten Ankündigungen. Die internationale Bewertung deutscher Nachhaltigkeitsbemühungen zeichnet ein gemischtes Bild, das die Diskrepanz zwischen politischem Anspruch und tatsächlicher Umsetzung schonungslos offenlegt. Im aktuellen Klimaschutz-Index von Germanwatch und dem NewClimate Institute, der auf der Weltklimakonferenz in Baku vorgestellt wurde, ist Deutschland vom vierzehnten auf den sechzehnten Platz abgerutscht. Die Gesamtbewertung verschlechterte sich von „gut“ auf nur noch „mäßig“. Hauptverantwortlich für diesen Abstieg sind die Problemfelder Verkehr und Gebäude, die viel zu langsam elektrifiziert werden. Selbst die positiven Entwicklungen beim Ausbau von Solar- und Windenergie seit 2022 konnten diesen Rückschlag nicht abfedern.
Die Defizite im Klimaschutz liegen laut den Experten besonders in der Verkehrs- und Gebäudepolitik. Das verwässerte Klimaschutzgesetz und drohende Haushaltskürzungen könnten nationale und internationale klimapolitische Fortschritte massiv erschweren. Während der Ausbau erneuerbarer Energien im Stromsektor durchaus Fortschritte macht, bleiben andere Sektoren weit hinter den notwendigen Transformationsschritten zurück. Deutsche kaufen weiterhin überwiegend Verbrenner-Fahrzeuge, was sich negativ auf die Klimabilanz auswirkt. Mit der mäßigen Bewertung schneiden mittlerweile sechs andere EU-Staaten besser ab als Deutschland.
Im internationalen Kontext zeigt sich die ganze Dimension der Herausforderung. Die ersten drei Plätze des Klimaschutz-Rankings bleiben traditionell leer, da kein Land ausreichend unternimmt, um die Erderwärmung auf deutlich unter zwei Grad zu begrenzen. Dänemark führt das Ranking an, vor allem durch seinen vorbildlichen Ausbau erneuerbarer Energien und seine internationale Klimapolitik. Auch Norwegen und Schweden erhielten Bestnoten bei den erneuerbaren Energien. Die größten Emittenten China und die Vereinigten Staaten von Amerika landen dagegen in der Kategorie „sehr schlecht“ auf den Plätzen 55 und 57. China fehlt es trotz beispiellosem Boom bei erneuerbaren Energien an einer klaren Abkehr von fossilen Brennstoffen. In den Vereinigten Staaten von Amerika liegt der Pro-Kopf-Ausstoß von Treibhausgasen mit 15,8 Tonnen Kohlendioxid jährlich noch immer auf sehr hohem Niveau.
Die Menschenrechtsbilanz Deutschlands im internationalen Vergleich fällt ebenfalls zwiespältig aus. Im Fragile State Index 2024, der die Situation der Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit weltweit bewertet, gehört Deutschland nicht zur Spitzengruppe. Island und Norwegen erreichen mit jeweils 0,2 Indexpunkten die besten Werte auf einer Skala von null bis zehn, wobei niedrigere Werte bessere Bedingungen anzeigen. Human Rights Watch kritisierte in seinem Weltbericht 2024 Deutschland dafür, dass Menschenrechte in der Außenpolitik nicht an erster Stelle stehen und von anderen Interessen überlagert werden. Die deutsche Regierung verurteilte zwar die Angriffe der Hamas auf Israel öffentlich, äußerte sich jedoch nicht zu den israelischen Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht in Gaza. Auch die Haltung zur chinesischen Politik in der Uighuren-Region bleibt vage.
Im Inland registrierte Human Rights Watch eine starke Zunahme rechtsextremistisch motivierter Demonstrationen sowie vermehrte Angriffe gegen Migranten, Juden, Muslime, Sinti und Roma sowie gegen LGBTQ-Personen. Positiv hervorzuheben ist Deutschlands zentrale Rolle bei der Verurteilung der russischen Invasion in der Ukraine sowie die Unterstützung bei der Untersuchung von Kriegsverbrechen durch den Internationalen Strafgerichtshof. Deutschland versäumte es jedoch, seinen internationalen Verpflichtungen bei der Aufarbeitung der während der deutschen Kolonialherrschaft in Namibia begangenen Verbrechen angemessen nachzukommen. Sieben UN-Sonderberichterstatter äußerten große Besorgnis darüber, dass Deutschland einen menschenrechtsorientierten Wiedergutmachungsprozess mit sinnvoller Beteiligung der betroffenen Gemeinschaften schuldig bleibt.
Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie selbst wird seit Jahren von verschiedenen Seiten kritisiert. Der Rat für Nachhaltige Entwicklung, der die Bundesregierung berät, fordert eine „schonungslose Analyse, warum viele Ziele bisher verfehlt werden“. Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland moniert, dass die Ziele nicht ehrgeizig genug sind und die Politik zu wenig für ihre Erreichung unternimmt. Wesentliche Ziele in den Bereichen Klimaschutz, Artenschutz, Verkehr und Landwirtschaft seien weit davon entfernt, erreicht zu werden. Zielkonflikte und Blockaden würden in der Strategie nicht ausreichend thematisiert, ebenso fehle eine nachvollziehbare Analyse des Nicht-Erreichten.
Von ursprünglich 63 Indikatoren in der Neuauflage 2016 umfasst die Strategie mittlerweile zweiundsiebzig Kennzahlen, die verschiedene Aspekte nachhaltiger Entwicklung messen sollen. Das Statistische Bundesamt überprüfte 2021, dass von zwölf konkreten Zielen für das Jahr 2020 nur ein Teil tatsächlich erreicht wurde. Die Ressourcenproduktivität und das Energiesparen hinken den Zielstellungen hinterher. Das Artensterben schreitet in ungewöhnlichem Ausmaß fort. Schritte zur nachhaltigen Mobilität sind nicht entschieden genug.
Die Bundesregierung betont dennoch, dass nachhaltige Entwicklung nur als Gemeinschaftswerk gelingen kann und bezieht daher Wirtschaft, Wissenschaft, Verbände und Bürger in die Weiterentwicklung der Strategie ein. An den jüngsten Beteiligungsprozessen 2023 und 2024 nahmen rund 1.500 Bürger teil. Eine Online-Konsultation zur Dialogfassung der Nachhaltigkeitsstrategie erbrachte etwa 900 Beiträge. Die Federführung für das Thema Nachhaltigkeit liegt im Kanzleramt, wo ein Staatssekretärsausschuss für nachhaltige Entwicklung als zentrales Steuerungsorgan fungiert. Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung versteht sich als „Wachhund“ der Nachhaltigkeit und prüft Gesetzesvorhaben auf ihre Vereinbarkeit mit den Nachhaltigkeitszielen.
Die Herausforderung für Deutschland besteht darin, den Worten nun endlich entschlossene Taten folgen zu lassen. Die Transformation zu einer nachhaltigen Gesellschaft erfordert nicht nur ambitionierte Ziele auf dem Papier, sondern eine grundlegende Neuausrichtung in allen Politikbereichen. Der internationale Vergleich zeigt deutlich, dass Deutschland seine einstige Vorreiterrolle beim Klimaschutz verloren hat und auch bei den Menschenrechten nicht zur absoluten Spitzengruppe gehört. Die nächsten Jahre werden entscheidend sein, ob es gelingt, die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu schließen.