EU Reporting

„Nachhaltigkeit ist kein Entweder-oder“ – Ein Gespräch mit Andie Wood, Workiva

Die ESG-Berichterstattung steht in Europa vor einem Wendepunkt: Während politische Rückzieher und regulatorische Unsicherheiten für Verwirrung sorgen, wächst in vielen Unternehmen das strategische Verständnis für Nachhaltigkeit. Andie Wood, Vice President Regulatory Strategy bei Workiva, erklärt im Interview, warum der scheinbare Zielkonflikt zwischen Wettbewerbsfähigkeit und Klimaschutz eine Illusion ist – und warum klare Daten, weniger Silos und mutige Führung künftig entscheidend sind.

23.05.2025

„Nachhaltigkeit ist kein Entweder-oder“ – Ein Gespräch mit Andie Wood, Workiva

Dr. Elmer Lenzen: Vielen Dank für Ihre Zeit, Frau Wood. Sie sind Vice President für Regulatory Strategy bei Workiva und bringen Erfahrung sowohl in der regulatorischen als auch der technischen Dimension von Nachhaltigkeitsberichterstattung mit – von der CSRD über die ESRS bis hin zu datenbezogenen Themen. Deshalb kann ich mir erlauben, sowohl strategische als auch technische Fragen zu stellen. Beginnen wir mit einer Einschätzung: Wie ist aktuell die Stimmung unter europäischen Unternehmen in Bezug auf ESG-Compliance? Gibt es mehr Dynamik – oder eher Ernüchterung?

Andie Wood: 
Eine sehr gute Frage – und eine, die aktuell überall gestellt wird. Die kurze Antwort: Es herrscht große Unsicherheit. Die Unternehmen lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen. Die eine hat schon vor einiger Zeit erkannt, welchen Wert Nachhaltigkeitsberichterstattung hat – jenseits der reinen Compliance. Diese Unternehmen wissen, warum sie berichten, und sie machen weiter, auch wenn sich die Vorschriften ändern.

Die andere Gruppe hat das Thema Nachhaltigkeit durch regulatorischen Druck überhaupt erst entdeckt. Für sie war ESG-Compliance der Einstieg. Dort herrscht nun deutlich mehr Unsicherheit. Interessant ist aber: Gerade aus dieser zweiten Gruppe sehen wir viele Unternehmen, die nun bewusst überlegen, wie es weitergehen kann. Sie stellen sich Fragen wie: Wo liegt der geschäftliche Nutzen? Wie können wir sinnvoll vorankommen, ohne uns in übertriebener Regelgläubigkeit zu verlieren?

Die Auswirkungen des Omnibus-Vorschlags


Wenn wir dieses Gespräch vor Februar geführt hätten, wäre es wahrscheinlich anders verlaufen. Wie hat sich die Lage durch die EU-Omnibus-Verordnung verändert?

Wood: Die Omnibus-Vorschläge haben definitiv etwas bewegt – auch wenn sie formal noch nicht vollständig beschlossen sind. Die Verschiebung der Berichtsanforderungen für viele Unternehmen um zwei Jahre sorgt einerseits für Erleichterung, andererseits aber auch für neue Unsicherheiten. Unternehmen müssen auf Annahmen arbeiten – das ist nie einfach.
Wie stark die Vorschläge wirken, hängt wiederum davon ab, aus welcher Motivation heraus berichtet wird. Wer Nachhaltigkeit strategisch betrachtet, wird jetzt einfach weitermachen. Das haben wir z. B. beim französischen Asset Manager Amundi gesehen, der sich entschieden hat, dennoch zu berichten – obwohl es nicht mehr zwingend notwendig war. Andere wiederum prüfen ihre Projekte neu: Was war der eigentliche Zweck? Ging es wirklich nur um das Haken hinter Compliance-Feldern?

Viele Unternehmen haben im Zuge der doppelten Wesentlichkeitsanalyse wertvolle Erkenntnisse gewonnen – über Risiken, aber auch über neue Geschäftschancen. Selbst wenn sie jetzt nicht sofort berichten, werden sie die Informationen nutzen.

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Wachstum oder Regulierung – ein falscher Gegensatz?

In Europa scheint sich ein alter Zielkonflikt neu zu formieren: wirtschaftliches Wachstum versus Nachhaltigkeit. Der Draghi-Bericht hat diese Debatte noch verstärkt. Was raten Sie Führungskräften, um hier nicht die Orientierung zu verlieren?

Wood: Der scheinbare Gegensatz zwischen Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit ist in Wahrheit ein Trugbild. Wer sich intensiver mit der doppelten Wesentlichkeit beschäftigt, erkennt: Nachhaltigkeit kann auch unternehmerische Chancen eröffnen. In unserer Analyse der ersten Berichte haben wir gesehen, dass viele Unternehmen nicht nur über Risiken berichten, sondern gezielt auch über Chancen.

Natürlich gibt es legitime Kritik an Bürokratie – etwa beim Bau von Wind- oder Solaranlagen. In solchen Fällen sollte man gezielt entbürokratisieren. Aber ESG-Reporting pauschal als Belastung zu sehen, greift zu kurz. Wer die Daten gut analysiert, kann daraus konkrete betriebliche Impulse ableiten. Der Schlüssel liegt in der Reifung des Modells – nicht in seiner Ablehnung.

USA: ESG als politischer Kampfbegriff

Ein Blick über den Atlantik: In den USA steht der Begriff ESG zunehmend unter politischem Druck. Was bedeutet das für amerikanische Unternehmen?

Wood: Sobald ein Begriff wie ESG politisch aufgeladen ist, wird er schwer nutzbar. Deshalb sehen wir viele Unternehmen, die sich vom Begriff ESG distanzieren – nicht vom Thema selbst, sondern von der Sprache. Stattdessen sprechen sie einfach von nachhaltigem Wirtschaften.

Auch auf regulatorischer Ebene wird „Sustainability“ mittlerweile als das eigentliche Ziel verstanden – ESG ist nur die Kategorisierung. In Europa sehen wir das deutlich in den ESRS: Umwelt, Soziales und Governance sind die drei Themenblöcke, aber das Ziel bleibt nachhaltiges Wirtschaften. Das ist auch sinnvoll, denn der Begriff ESG war nie vollständig – Themen wie Steuertransparenz etwa sind darin nicht enthalten, werden aber bereits von Unternehmen freiwillig in ihre Berichte aufgenommen.

Helfen neue Rahmenwerke bei der Standardisierung?

Ein Ziel neuer Rahmenwerke wie der CSRD ist es, die Fragmentierung der Standards zu überwinden. Ist das gelungen?

Wood: 
Das Hauptziel ist Vergleichbarkeit. Viele alte Standards erlaubten zwar unternehmensspezifische Berichterstattung, machten Vergleiche aber unmöglich. Der Weg hin zu global gültigen Standards, wie auch die Arbeit des ISSB zeigt, ist ein Fortschritt.
Gleichzeitig wünschen sich manche Branchen – etwa Finanzdienstleister – wieder mehr sektorspezifische Informationen. Hier wird es darauf ankommen, die Balance zwischen Vereinheitlichung und Spezifizierung zu finden.

Von der Trennung zur Integration – Finanz- und Nachhaltigkeitsdaten zusammenführen

Noch sind Finanz- und Nachhaltigkeitsberichterstattung in vielen Unternehmen organisatorisch getrennt. Was raten Sie für den Weg zur integrierten Berichterstattung?

Wood: Der wichtigste Schritt ist: Menschen zusammenbringen. Viele Silos bestehen einfach aus Gewohnheit. Wenn Finanz- und Nachhaltigkeitsteams sich regelmäßig austauschen, verstehen sie schnell, wie stark ihre Themen eigentlich zusammenhängen.
Zweitens muss die Unternehmensstrategie überdacht werden. Wenn Nachhaltigkeit kein integraler Bestandteil der Geschäftsstrategie ist, bleiben auch die Datenströme getrennt. Die Integration muss von oben gewollt sein.

Und drittens – ja, auch die passende Software hilft. Aber entscheidend ist der kulturelle Wandel: Wer versteht, warum bestimmte Daten gebraucht werden, liefert sie auch verlässlicher. Gute Daten sind nicht nur für externe Reports wichtig, sondern auch für fundierte interne Steuerung.

XBRL: Notwendig oder überholt durch KI?

Ein kontroverses Thema ist das Datenformat XBRL. Viele Unternehmen sehen es als bürokratischen Albtraum. Wäre Künstliche Intelligenz nicht der einfachere Weg?

Wood: XBRL hat seine Berechtigung. Auch wenn KI heute erstaunlich leistungsfähig ist, braucht sie gut strukturierte Daten, um zuverlässig zu arbeiten. Selbst große Sprachmodelle haben Schwierigkeiten, Informationen aus unstrukturierten Texten korrekt zusammenzuführen – z. B. bei der Anzahl der berichteten wesentlichen Risiken.

Je klarer die Daten strukturiert sind, desto besser können sie auch von KI genutzt werden. Die Kombination aus menschlicher Prüfung, maschineller Vorarbeit und sauberer Struktur ist deshalb der beste Weg. XBRL liefert genau diese Struktur – und hilft letztlich sogar der KI, bessere Ergebnisse zu liefern.

Blick in die Glaskugel: Wie geht es weiter mit der ESG-Regulierung?

Wagen wir zum Abschluss einen Ausblick: Wie wird sich ESG-Berichterstattung in den nächsten Jahren entwickeln?

Wood: Die wichtigste Veränderung wird sein: mehr Klarheit. Die aktuellen Vorschläge werden in den nächsten zwölf Monaten konkretisiert. Das gibt Unternehmen Planungssicherheit – und die Möglichkeit, ihre Prozesse verlässlich auszurichten.
Zudem sehen wir weltweit neue Anreize: in Europa, im Vereinigten Königreich, aber auch in Asien. Nachhaltigkeit wird nicht mehr nur reguliert, sondern finanziell gefördert. Das eröffnet echten Handlungsspielraum für Unternehmen – und damit auch echte Chancen.

Vielen Dank für das Gespräch!



Quelle: UD
 

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