KI und Nachhaltigkeit
Die EU schwächt ihre Klimaschutzauflagen drastisch ab, während künstliche Intelligenz die Wirtschaft grundlegend verändert. Eine neue Studie zeigt: 80 bis 92 Prozent der ursprünglich erfassten Unternehmen könnten von Berichtspflichten befreit werden. Gleichzeitig steigt der Energieverbrauch von Rechenzentren bis 2026 auf über 1.000 Terawattstunden.
26.11.2025
Europa vollzieht eine Kehrtwende in der Nachhaltigkeitspolitik. Die sechste Ausgabe des „Observatory of Societal Transitions“, erstellt von der Anwaltskanzlei De Gaulle Fleurance in Zusammenarbeit mit der Wirtschaftshochschule HEC Paris und der Beratungsfirma Accuracy, dokumentiert einen dramatischen Wandel: Die EU-Kommission plant, die Schwellenwerte der CSRD-Richtlinie für nichtfinanzielle Berichterstattung deutlich anzuheben. Künftig sollen nur noch Unternehmen mit mehr als 1.750 Mitarbeitern zur Nachhaltigkeitsberichterstattung verpflichtet sein. Bisher lag die Grenze bei 250 Mitarbeitern.
Louis de Gaulle, Präsident von De Gaulle Fleurance, spricht von einem Rückzug des harten Rechts. Die geplante Omnibus-Richtlinie stelle die ursprünglichen europäischen Vorgaben zur nichtfinanziellen Berichterstattung und Sorgfaltspflicht grundlegend infrage. Zudem soll die Zahl der zu veröffentlichenden Indikatoren in Nachhaltigkeitsberichten um fast 70 Prozent reduziert werden. Was als ambitioniertes Reformprojekt begann, wird nun auf einen Bruchteil seines ursprünglichen Umfangs zurückgestutzt.
Bénédicte Faivre-Tavignot von HEC Paris sieht darin dennoch eine Chance: Die Geschichte der nachhaltigen Entwicklung trete in ein neues Kapitel ein, in dem Verantwortung nicht mehr auferlegt, sondern gewählt werde. Soft Law müsse an Boden gewinnen und kleineren Unternehmen ermöglichen, sich freiwillig durch ihre CSR-Strategie zu profilieren. Brian Hill vom Center for an Inclusive Economy schlägt vor, auf produktbezogene statt unternehmensbezogene Berichterstattung zu setzen, um Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit zu versöhnen.
Parallel zur Deregulierung verschärft sich die Klimaklagen-Welle. Im Jahr 2024 wurden weltweit knapp 3.000 klimabezogene Verfahren in rund 60 Ländern eingeleitet, wie der Bericht des Grantham Institute zeigt. Etwa jeder fünfte Fall richtet sich gegen ein privates Unternehmen. In Frankreich hingegen nimmt die Zahl der Klagen auf Grundlage der Sorgfaltspflicht ab: 2025 wurden lediglich zwei Verfahren eingeleitet. Arnaud Van Waeyenberge von HEC Paris warnt jedoch vor der zunehmenden Fragmentierung und dem ständigen Wandel des regulatorischen Rahmens, der von multinationalen Konzernen höchste Anpassungsfähigkeit erfordert.
Das Thema Greenwashing entwickelt sich unterdessen zum systemischen Risiko. Die französische Wettbewerbsbehörde DGCCRF führte zwischen 2023 und 2024 mehr als 3.000 Unternehmensprüfungen durch und stellte bei einem Drittel der kontrollierten Betriebe irreführende Umwelt- oder Sozialaussagen fest, verglichen mit 25 Prozent im Jahr 2022. Die Behörde verhängte über 400 Auflagen, 70 Bußgelder und sprach mehr als 500 Verwarnungen aus.
Während die Nachhaltigkeitsregulierung zurückgefahren wird, revolutioniert künstliche Intelligenz die Geschäftsmodelle. Die KI automatisiert nicht nur Prozesse, sie verändert fundamental, wie Entscheidungen getroffen, Werte geschaffen und Umsätze generiert werden. Jérémy Sitruk von Accuracy vergleicht die Entwicklung mit dem Internet: Es gehe nicht darum, KI zu stoppen, sondern jetzt die Leitplanken, Nutzungsprinzipien und erstrebenswerten Ziele zu definieren.
Die Technologie ermöglicht bereits heute eine Disintermediation in Finanzmärkten. Laut dem Consumer Financial Protection Bureau werden auf KI-gestützten Plattformen 27 Prozent mehr Kredite vergeben, bei 16 Prozent niedrigeren Zinsen für vergleichbare Risiken. Gleichzeitig entstehen ethische Dilemmata: Wann wird Personalisierung zur Diskriminierung? Wer trägt Verantwortung, wenn Algorithmen entscheiden?
Der ökologische Fußabdruck der KI-Revolution ist beträchtlich. Die Internationale Energieagentur prognostiziert, dass der weltweite Stromverbrauch von Rechenzentren von 460 Terawattstunden im Jahr 2022 auf über 1.000 Terawattstunden im Jahr 2026 steigen könnte. Die im August 2024 in Kraft getretene EU-KI-Verordnung sieht bei Verstößen gegen Compliance-Pflichten Strafen von bis zu sechs Prozent des globalen Umsatzes vor.
Bruno Deffains von De Gaulle Fleurance sieht Rechtsabteilungen in einer Schlüsselrolle: Durch rigorose Regulierung und gleichzeitige Mobilisierung der KI für soziale und ökologische Ziele könnten Unternehmen diese Zwänge in Chancen für verantwortungsvolle Innovation verwandeln. Die Frage bleibt, ob Europa zwischen Deregulierungsdruck und technologischem Fortschritt seine Vorreiterrolle in Sachen Nachhaltigkeit behaupten kann.