Compliance & Integrity als Führungsaufgabe und Kulturgestaltung
Die Handreichung „Compliance & Integrity als Führungsaufgabe und Kulturgestaltung“ des Konstanz Institut für Corporate Governance (KICG) bietet einen fundierten und praxisorientierten Ansatz zur Weiterentwicklung des Compliance & Integrity Managements (CIM) in Unternehmen. Die Publikation stellt heraus, dass wirksames CIM nicht als isoliertes Kontrollinstrument verstanden werden darf, sondern als integraler Bestandteil von Führungsverantwortung und Unternehmenskultur.
14.04.2025

Im Zentrum steht ein Paradigmenwechsel: Compliance wird nicht länger als bloße Erfüllung formaler Regeln betrachtet, sondern als Teil eines wertebasierten Führungsverständnisses. Die Autoren argumentieren, dass gesetzliche Regelungen und formale Systeme nur dann Wirkung entfalten können, wenn sie durch eine ethisch fundierte Unternehmenskultur getragen und von den Führungskräften glaubwürdig verkörpert werden. Authentisches Führungsverhalten – vom Top-Management bis zur mittleren Führungsebene – ist dabei zentral. Diese prägen mit ihrem Verhalten maßgeblich die Wahrnehmung und Akzeptanz von Integrität im Unternehmen („Tone from the Top“ und „Tone from the Middle“).
Das Forschungsvorhaben, das von 2021 bis 2024 durchgeführt wurde, basiert auf einer Kombination aus qualitativen Experteninterviews, einer quantitativen Umfrage unter 80 Fachleuten sowie auf Literaturauswertung und Fallstudienanalyse. Die daraus entwickelte Methodik stützt sich auf drei zentrale Säulen: Enablement, Effective Empowerment und Effectiveness Testing.
Enablement, Effective Empowerment und Effectiveness Testing
Enablement fokussiert auf die Befähigung von Führungskräften. Diese sollen in die Lage versetzt werden, ethische Dilemmata zu erkennen, zu reflektieren und Entscheidungen im Spannungsfeld von ökonomischen, rechtlichen und sozialen Anforderungen verantwortlich zu treffen. Grundlage bildet das „Responsible Leadership Model“, das Führung als Balanceakt zwischen Management- und Leadership-Qualitäten sowie ethischer Reflexionsfähigkeit versteht. Führungskräfte müssen demnach nicht nur effizient Ressourcen steuern (Management), sondern auch über Vorbildfunktion, Kommunikationsstärke und Integrität verfügen (Leadership).
Effective Empowerment zielt auf die organisatorischen und kulturellen Voraussetzungen für wirksames CIM. Hier identifizieren die Autoren förderliche und hemmende Faktoren: Während klare Zuständigkeiten, Unterstützung durch Kontrollsysteme und eine partizipative Unternehmenskultur als begünstigend gelten, wirken bürokratische Hürden, mangelnde Glaubwürdigkeit oder widersprüchliche Anreizsysteme kontraproduktiv. Entscheidend ist, dass Compliance nicht als reine „Stabsfunktion“ in der zweiten Verteidigungslinie verstanden wird, sondern in das Tagesgeschäft integriert und als Teil der Führungsarbeit anerkannt wird.
Effectiveness Testing stellt die dritte Säule dar. Es geht um die Messung und Bewertung der Wirksamkeit von Compliance- und Integritätsmaßnahmen. Die Autoren legen dar, dass herkömmliche Kennzahlen wie Schulungsquoten oder Meldehäufigkeiten nicht ausreichen, um eine gelebte Integritätskultur zu erfassen. Vielmehr braucht es qualitative und partizipative Ansätze, etwa Kulturdiagnosen, Interviews, Workshops oder szenariobasierte Evaluationen, um die tatsächliche ethische Orientierung in der Organisation zu verstehen.
Deutschland setzt auf stark regulatorisch formalisierte Kontrollsysteme
Im internationalen Vergleich hebt die Publikation hervor, dass Deutschland regulatorisch stark auf formalisierte Kontrollsysteme setzt (zum Beispiel IDW PS 980), während internationale Standards wie ISO 37301 oder die US Sentencing Guidelines stärker auf die Bedeutung von Kultur und Führung hinweisen. Der Deutsche Corporate Governance Kodex betont inzwischen auch das Leitbild des „ehrbaren Kaufmanns“ als Vorbild für ethische Selbstverpflichtung.
Der Handlungsrahmen für Unternehmen, so die Autoren, liegt im Zusammenspiel aus Legal Compliance (Regelkonformität) und Ethical Integrity (werteorientiertes Handeln). Letztere ist nicht beliebig, sondern orientiert sich am Prinzip „Sollen impliziert Können“ – also an den realistischen Möglichkeiten und Ressourcen des Unternehmens. Ziel ist der Aufbau von Reputationskapital und Vertrauen, das insbesondere in einer von Unsicherheit und Komplexität geprägten Geschäftswelt (VUCA) überlebenswichtig ist.
Die Publikation plädiert für einen bewussten Umgang mit Ambiguität und Zielkonflikten – insbesondere dort, wo ethische und ökonomische Anforderungen kollidieren. Unternehmen, die ihren Führungskräften keine Unterstützung bei der Navigation durch Dilemmata bieten, riskieren nicht nur Reputationsschäden, sondern auch Motivationsverluste im Inneren. Um dem zu begegnen, empfiehlt das KICG eine systematische Verzahnung von Ethiktraining, Entscheidungscoaching und Kulturentwicklung.
Die Autoren schließen mit dem Appell, Compliance & Integrity Management als lernendes System zu verstehen: Nicht nur Fehlverhalten verhindern, sondern auch aus Fehlern lernen, nicht nur Regeln einfordern, sondern Werte vermitteln. Diese Perspektive mache aus Compliance kein notwendiges Übel, sondern eine echte Führungsaufgabe mit kultureller Strahlkraft – und damit zu einem zentralen Element verantwortlicher Unternehmensführung im 21. Jahrhundert.
Sie können die Studie hier herunterladen.