Backlash gegen Europas Klima-Agenda: Was vom Green Deal bleibt
Als Ursula von der Leyen 2019 den „Green Deal“ präsentierte, war die Vision groß: Europa sollte der erste klimaneutrale Kontinent werden und zugleich eine neue Wachstumsstrategie entwickeln. Sie versprach eine „bessere, gesündere und wohlhabendere Zukunft“ und sprach von einem Projekt, das Europa „einigen und stärken“ werde. Heute, vier Jahre später, klingt die Tonlage völlig anders. Was bleibt vom EU Green Deal? Reformkurs oder Rückwärtsgang?
27.08.2025
In Antwerpen degradierte von der Leyen ihren Green Deal zum „Clean Industrial Deal“ und sprach von „exzessiven regulatorischen Lasten“ sowie einem gefährlichen „Abfluss von Investitionen“. Unter dem Schlagwort „Vereinfachung“ kündigte sie Omnibus-Gesetze an, um „überflüssige Klimabürokratie abzubauen“. Für die Grünen-Politikerin Anna Cavazzini ist das nichts anderes als ein „Vorwand, unter dem die Verschmutzerlobby den Green Deal entkernen“ wolle.
Die Modebranche als Symbolfall
Besonders sichtbar wird die neue Zurückhaltung in der Modebranche. Noch vor einem Jahr schien klar: Konzerne müssten künftig Zwangsarbeit aus ihren Lieferketten verbannen, ihre CO2-Bilanz senken und ihre Produkte von Beginn an nachhaltiger gestalten. Doch nun sind die zentralen Gesetzesvorhaben aufgeschoben oder abgeschwächt worden. „Quite a few brands have said, ‘We can basically put a lot of that on ice’“, beschreibt der britische Jurist Oliver Scutt die Stimmung in der Branche.
Die Corporate Sustainability Due Diligence Directive (CSDDD) etwa wurde so verändert, dass Unternehmen nur noch ihre direkten Zulieferer kontrollieren müssen. Doch gerade „most of the forced labour and unethical treatment is happening much further down the supply chain“, warnt Robin Bishop, Direktorin der Beratungsfirma Impactt. Auch die Verordnung über entwaldungsfreie Produkte (EUDR), die ursprünglich alle Wälder weltweit gleichstellen wollte, wurde verwässert: „The EUDR certainly wasn’t perfect. But … it was a really well designed regulatory package,“ kritisiert die Umweltorganisation Canopy die Abstriche.
Die Green Claims Directive, die Greenwashing eindämmen sollte, droht sogar ganz zu scheitern. „The instability is unnerving … to have these eleventh-hour shifts from the EU hasn’t been welcomed,“ sagt Nicole Rycroft von Canopy.
Wachsende Skepsis in der Industrie
Die Zweifel am Green Deal reichen weit über die Modeindustrie hinaus. In Deutschland fürchten Beschäftigte in der Chemieindustrie um ihre Zukunft. „Wer vor ein paar Jahren im Chemiepark anfing, war überzeugt, einen Job bis zur Rente zu haben. Jetzt sorgen sich alle um die Zukunft“, sagt Betriebsrat Marco Hucklenbroich vom britischen Konzern Ineos.
Die Unternehmensseite klagt über Kosten, die im internationalen Wettbewerb kaum tragbar seien. „Wenn es dabei bleibt, werden wir die energieintensiven Produktionsstufen der Grundstoffchemie nicht in Deutschland halten können“, warnt Manager Stephan Müller.
Auch die Autoindustrie, die sich spät der Elektromobilität zugewandt hat, steht vor Umbrüchen. „Wer glaubt, er könne mit den fossilen Technologien der Vergangenheit die Zukunft gewinnen, der träumt“, urteilt der frühere Umweltstaatssekretär Rainer Baake.
Politischer Rückenwind für den Rollback
In Brüssel und den Hauptstädten der Mitgliedstaaten wird die Kritik am Green Deal längst politisch kanalisiert. Der Vorsitzende der EVP-Fraktion, Manfred Weber, deutet an, dass man manche Maßnahmen „rückgängig machen müsse“, wenn die übrige Welt beim Klimaschutz nicht mitziehe.
Während Klimaforscher die EU nach wie vor auf Kurs sehen – die Ziele für 2030 und 2040 seien „in Reichweite“ – nutzen populistische Parteien die Ängste vor Jobverlusten, Deindustrialisierung und steigenden Kosten. So verschiebt sich der öffentliche Diskurs: Was einst als „mutiger Fahrplan“ galt, erscheint vielen heute als Bedrohung für Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand.
Die fragmentierte Karte der ESG-Prioritäten
Nachwuchs für die Klimawoche in New York spiegelt sie wider: Die klimabezogenen Schlagzeilen bleiben zwar ein globales Thema – doch die Umsetzung, Prioritäten und treibenden Kräfte unterscheiden sich je nach Region stark. Professor Ioannis Ioannou zeichnet ein Bild, in dem ESG nicht mehr als homogenes, weltumspannendes Programm wahrgenommen werden kann, sondern zunehmend als regionale Mosaikstruktur, in der jede Region ihren eigenen Fokus setzt:
Die Vereinigten Staaten erleben derzeit eine tiefgreifende Polarisierung: Auf Bundesebene sind ESG Vorgaben deutlich zurückgegangen, während einzelne Bundesstaaten und Städte ESG-Initiativen weiterhin aktiv verfolgen. Unternehmen passen ihre Kommunikation verstärkt regional an – im Kern bleibt die strategische Logik von ESG jedoch bestehen, insbesondere dort, wo Transformationsrisiken wie im Energiesektor bestehen.
In Asien zeigt sich Nachhaltigkeit als zentraler Bestandteil industrieller Strategie. Länder wie China, Japan, Singapur und Südkorea integrieren ESG in ihre Energiewende, Lieferkettenresilienz und Exportausrichtung – häufig deutlich stärker durch staatliche Planung und technologische Infrastruktur als durch westlich geprägte Marktstandards.
Lateinamerika und Afrika wiederum stellen andere Prioritäten ins Zentrum: Hier dominieren Themen wie Klimagerechtigkeit, Resilienz strukturschwacher Regionen, Biodiversität und indigene Perspektiven. Herausfordernd bleibt der eingeschränkte Zugang zu globalem Kapital sowie eine Risikowahrnehmung, die oftmals nicht den gleichen Dringlichkeitsrahmen erhält wie in industrialisierten Ländern.
Zusammen ergibt sich eine „Mosaikstruktur“ globaler ESG-Dynamik – tief verflochten, aber asymmetrisch in den Zugängen, Prioritäten und Erzählungen. Während Europa regulatorische Substanz bietet, fehlen in anderen Regionen häufig politische Rahmenbedingungen – dennoch hält sich dort die Praxis resilient durch unternehmerisches, finanzielles oder zivilgesellschaftliches Engagement. Der Weg zu einem inklusiven Klimaschutz ist deshalb nicht eine globale Schablone, sondern ein vernetztes Feld regional diverser Strategien. Das ist die eigentliche Herausforderung für internationale Akteure: Wie lassen sich Partnerschaften so gestalten, dass sie Vielfalt respektieren, Klarheit schaffen und nachhaltige Wirkung entfalten?
Zwischenbilanz und Ausblick
Die Bilanz des Green Deal ist ambivalent. Ökologisch lässt sich Fortschritt messen: „Fast die Hälfte der Elektrizität in der EU stammt mittlerweile aus erneuerbaren Energiequellen“. Auch die Emissionen sind im vergangenen Jahr zweistellig gesunken, trotz leicht gestiegenem Energieverbrauch.
Ökonomisch dagegen ist Ernüchterung eingekehrt. „Das Versprechen, ambitionierte Klimapolitik mit wettbewerbsfähiger Industrie zu verbinden, wurde bislang nicht eingehalten“,resümiert BDI-Vizechef Holger Lösch.
Europa steht damit an einem Scheideweg. Wird der Green Deal reformiert, entschlackt und praxisnäher? Oder scheitert er am Widerstand von Industrie, Politik und Bevölkerung? Transformationsexperte Jens Burchardt von der Boston Consulting Group bleibt optimistisch: „Der Green Deal ist die richtige Antwort auf das Menschheitsproblem der Erderwärmung. Aber er muss kostengünstiger umgesetzt und besser gesteuert werden“.
Im globalen Kontext bleibt klar: Europa verliert an Vorreiterrolle, doch die Geschichte der ESG-Transformation ist nicht auserzählt. Sie verläuft fragmentiert, ungleichmäßig – und wird auch künftig zwischen Rückschritt und stillem Fortschritt balancieren.