Circular Economy

„Wer bewusst einkaufen will, braucht nur seinen gesunden Menschenverstand“

Ökobilanzen analysieren kontextbezogen die Umweltauswirkungen von Produkten und Services entlang des Lebenswegs und können sie gegenüberstellen. Das heißt nicht, dass zwangsläufig die nachhaltigere Lösung auf den Markt kommt oder gekauft wird. Warum das so ist, erklärt Marten Stock vom ifu Hamburg, Member of iPoint Group, in einem Interview mit UmweltDialog. Er ist Experte auf dem Gebiet der Ökobilanzierung.

18.08.2020

„Wer bewusst einkaufen will, braucht nur seinen gesunden Menschenverstand“

UmweltDialog: Umweltschädliche Plastiktüte vs. umweltfreundlicher Jutebeutel: Wir neigen dazu, Produkte eindeutig als (un)nachhaltig zu kategorisieren. Was sind die gängigsten Nachhaltigkeitsirrtümer, denen Konsumenten unterliegen?

Marten Stock: Nachhaltigkeitsirrtümer entstehen vor allem, weil wir eine vorgefasste Meinung von Materialien oder Produkten haben. So denken viele etwa, dass Glas generell umweltfreundlicher ist als Plastik, weil sie mit Kunststoffverpackungen das Thema Umweltverschmutzung in Verbindung bringen. Ich habe mal eine Studie für ein Unternehmen erstellt, bei dem es darum ging, die Umweltauswirkungen einer Glas- und einer Plastikverpackung gegenüberzustellen. Das Ergebnis: die Ökobilanz der Plastikverpackung war in diesem Fall besser, da Glas zwar pro Kilogramm eine bessere Umweltwirkung hat, in den meisten Fällen im Vergleich zu Plastik für die gleiche Flaschengröße aber ein Vielfaches der Menge benötigt wird. Der Geschäftsführer hat das zur Kenntnis genommen, sich aber dennoch für die Glasverpackung entschieden. Mit der Begründung, dass er gerne Urlaub auf Mallorca mache und ihn der Plastikmüll im Meer störe.

Bei Einweg- und Mehrwegsystemen ist es ähnlich: Viele Verbraucher sind der Meinung, dass Dinge, die sie öfter verwenden, immer nachhaltiger sind als Einmalprodukte, weil sie nur die Abfallvermeidung beziehungsweise Entsorgung im Blick haben und andere Umweltauswirkungen außer Acht lassen. Aber zum Lebenszyklus eines Produktes gehören auch Rohstoffgewinnung, Beschaffung und die eigentliche Nutzung. Wir haben vergangenes Jahr eine Ökobilanz dazu erstellt, welchen Einfluss Menstruationstassen, Bio-Tampons und herkömmliche Tampons auf die Umwelt haben. Das Ergebnis: Für Menstruationstassen wird mehr Wasser und Energie verbraucht, als viele erwarten würden, weil sie nach jeder Verwendung gründlich gereinigt und regelmäßig abgekocht werden müssen.

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Gibt es Produkte oder Technologien, die als Vorbild für eine ganzheitliche Nachhaltigkeitsbetrachtung in der Öffentlichkeit funktionieren?

E-Mobilität ist ein gutes Beispiel dafür, wie man in der Öffentlichkeit von einer einseitigen Sichtweise hin zu einem differenzierten Bild gekommen ist. E-Autos galten zunächst als nachhaltig, weil sie lokal während des Gebrauchs keine Emissionen erzeugen. Was ist aber mit der notwendigen Antriebsenergie für den Motor oder den Umwelt- und Sozialrisiken, die beim Rohstoffabbau für die Batterien entstehen? Diese Kriterien fanden zunächst kaum Beachtung, sind aber nun aus der Debatte über Nachhaltigkeitsaspekte dieser Antriebstechnologie nicht mehr wegzudenken. 

An dieser Stelle ist auch ein sogenannter „Trade-off“ zu machen: Was ist wichtig für das Thema? Sind es die Arbeitsbedingungen in den Ländern, in denen der Rohstoff abgebaut wird, oder sind es die Klimawirkungen bedingt durch den CO2-Ausstoß der Motoren? Dafür gibt es objektiv keine richtige Antwort, denn jeder entscheidet das subjektiv gemäß seinen persönlichen Einstellungen. 

Wird man sich dieser Komplexität bewusst, merkt man gleichzeitig, welche Fehlentscheidungen man treffen kann. Dabei ist die Gefahr groß, handlungsunfähig zu werden, weil man denkt, eh etwas falsch zu machen. 

Marten Stock vom ifu Hamburg ist Experte in Sachen Ökobilanzierung.
Marten Stock vom ifu Hamburg ist Experte in Sachen Ökobilanzierung.

Als Verbraucher alle sozialen und ökologischen Nachhaltigkeitsauswirkungen während des gesamten Lebenszyklus im Blick zu haben, ist aber auch schwierig. Helfen hier Siegel?

Bedingt. Siegel schützen den Verbraucher nicht davor, dennoch die unökologische Entscheidung zu treffen. So ist es ökologisch unsinnig, etwa im Winter biozertifizierte Erdbeeren aus Chile zu kaufen. 

Um nachhaltiger zu leben, können Verbraucher ihren eigenen Konsum hinterfragen: Brauche ich für meine eigene Mobilität wirklich ein Auto oder reicht das Fahrrad? Benötige ich neben Notebook und Smartphone auch noch ein Tablet? Wie kann ich meine Hausgeräte reparieren? Natürlich kann man als Konsument nicht alle Nachhaltigkeitsauswirkungen von Produkten auf dem Schirm haben. Dennoch kann man bewusst einkaufen, indem man einfach seinen gesunden Menschenverstand einsetzt.

Lassen Sie uns nun auf die professionelle Ebene zu sprechen kommen. Herr Stock, Sie sind Experte auf dem Gebiet der Ökobilanzierung. Können Sie uns erklären, mit welchen gängigen Methoden man diese erstellt?

Zunächst: In der Ökobilanzierung spricht man immer von Systemen. Auf diese Weise wird deutlich, dass es nicht nur um das Endprodukt geht, sondern um seinen gesamten Lebensweg. Der Begriff ist in den 1990er Jahren aufgekommen und hat sich in dem ISO-Standard 14040/44 manifestiert. Damit wurde festgelegt, was eine Ökobilanz ist und wie man sie durchführt. 

Nach ISO 14040/44 muss zunächst angeben werden, was man analysieren möchte. Soll es etwa ein direkter Vergleich von Produkten bzw. Systemen zwischen Alternative A und B sein, oder untersucht man die Hotspots eines Produktes innerhalb seines Lebenswegs? Hier werden auch je nach Umfeld des Produktes und Zielsetzung der Studie die sogenannten Wirkungskategorien wie etwa Klimawirkung, Frischwasserverschmutzung oder Landnutzung etc. festgelegt. Danach sammelt man für den gesamten Lebenszyklus Daten: Wo kommen die Rohmaterialien her und wie werden sie weiterverarbeitet? Welche Umweltauswirkungen entstehen bei Transport und Nutzung des Endproduktes, und wie wird es entsorgt etc.?

Es macht natürlich keinen Sinn, ein Papierhandtuch mit einem Warmlufthändetrockner zu vergleichen. Vielmehr muss ich in diesem Fall die Umweltauswirkungen von einmal „getrockneter Hände“ gegenüberstellen.

Dieser physikalische Lebenszyklus wird auf die sogenannte funktionelle Einheit skaliert. Will sagen, dass man bei zu vergleichenden Systemen immer die genau gleiche Funktion gegenüberstellt. 

Was heißt das?

Nehmen wir das bekannte Beispiel des Händetrocknens auf öffentlichen Toiletten: Es macht natürlich keinen Sinn, ein Papierhandtuch mit einem Warmlufthändetrockner zu vergleichen. Vielmehr muss ich in diesem Fall die Umweltauswirkungen von einmal „getrockneter Hände“ gegenüberstellen. Hier vergleiche ich dann die Nutzungsdauer des Gerätes von vielleicht zehn Sekunden Heißluftleistung mit dem Verbrauch von z.B. zwei Papiertüchern. 

Hier interessieren mich dann etwa folgende Fragen: Wo kommt das Papier her? Wie groß ist der Recyclinganteil? Wie schwer ist es und wie viel Wasser nimmt es auf? Wie lange ist der Warmlufthändetrockner an? Wie heiß ist die Luft? In welchem Land wird das Gerät benutzt? Wie lang ist seine Lebensdauer? 

Und wie bekommen Sie die notwendigen Daten? 

Als Ökobilanzierer muss ich immer die Wesentlichkeit im Blick haben. In Bereichen, in denen der größte Einfluss zu erwarten ist, erfasse ich die Daten selbst über die Hersteller. Das ist die sogenannte Primärdatenerfassung. Bei weniger relevanten Dingen, beispielsweise Produktaufklebern etc., greife ich auf generische Daten über Datenbanken mit Durchschnittsdatensätzen zurück. 

Diese vorgefertigten Datensätze gibt es auch für Stromnutzung zum Beispiel. Deswegen brauche ich auch nicht für jede Ökobilanz den deutschen Strommix neu zu modellieren, sondern arbeite mit diesen bestehenden Datensätzen. Grundsätzlich unterliegen diese einem Verifizierungsprozess, der bestätigt, dass sie die Qualitätsanforderungen der ISO 14040/44 erfüllen.

Auch Kreislauf- bzw. Recyclingfähigkeit ist bei einer nachhaltigen Produktentwicklung wichtig.
Auch Kreislauf- bzw. Recyclingfähigkeit ist bei einer nachhaltigen Produktentwicklung wichtig.

Durch Ökodesign sollen Hersteller die Umweltbelastungen von Produkten insgesamt verringern. Gibt es eine Blaupause für nachhaltige Produktentwicklung?

Es gibt bestimmte Kriterien, an denen man sich orientieren kann: Langlebigkeit, die eine lange Nutzungsphase ermöglicht. Denn eine halbierte Nutzung verdoppelt den Impact der Herstellung. Dann sind die Reparierbarkeit und die Materialeffizienz relevant. Das heißt auch, dass bei der Herstellung Materialverluste zu vermeiden sind und energieeffizient produziert wird. Außerdem dürfen Produkte natürlich keine toxischen Stoffe enthalten. Auch müssen mehr nachwachsende Rohstoffe wie etwa Holz verwendet werden. Wir sind aktuell in Projekten beteiligt, die Holz im Autobau wiedereinsetzen, weil es bei gleicher Funktionalität eine wesentlich bessere CO2-Bilanz als andere Materialien aufweist.

Schließlich muss auf die Kreislauf- bzw. Recyclingfähigkeit geachtet werden. Diese ermöglicht es, dass nach Ende der Nutzungsdauer die unterschiedlichen Materialien oder Stoffe einfach wiederverwendet werden können, sodass man ihnen einen weiteren Lebenszyklus zufügt. Auch das erhöht wiederum die Nutzungsintensivierung. 

Schließen sich Langlebigkeit und Recyclingfähigkeit in einem Produkt nicht oftmals aus? 

Natürlich gibt es Fälle, bei denen die Recyclingfähigkeit unter der Langlebigkeit leidet, weil innerhalb des Produktes bestimmte Stoffverbindungen bestehen, die schlecht voneinander zu trennen sind. Das ist aber nicht zwangsläufig der Fall. Die Frage ist eher, wann sich Recycling lohnt. In diesem Zusammenhang spricht man von der sogenannten Recyclingaufwendung. 

Können Sie das erläutern?

Man muss klären, wie intensiv die Herstellung der Recyclingfähigkeit, also Aktivitäten wie Sammeln, Reinigen, dem eigentlichen Trennen der verarbeiteten Materialien und die Herstellung von Primärmaterial andererseits sind. Es gibt Fälle, bei denen etwa der energetische Auffand des Recyclingprozesses höher ist als die Primärerzeugung von Materialien. Kreislaufwirtschaft ist eine Teillösung eines Gesamtkonzeptes für nachhaltiges Wirtschaften, nicht die alleinige. 

Vielen Dank für das Gespräch!

Quelle: UmweltDialog
 

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