Lebensmittel – Die Branche mit dem höchsten Reputationsrisiko
Eine kleine Ursache mit großer Wirkung: Defekt an einer Reinraumschleuse. Wie lange er schon besteht, lässt sich nicht mehr genau feststellen. Einige Chargen weisen Keime auf. Ausgelieferte Ware wird zurückgerufen; sicherheitshalber die Produktion einer ganzen Woche. Nur wenige Firmen der Lebensmittelindustrie betreiben für solche Notfälle aktive Vorsorge. Dabei ist im Risikomanagement „Schutz mit System“ durchaus machbar. Experten sagen, worauf es dabei ankommt.
27.07.2017
Von Manfred Godek
„Schnell kommen selbst auf kleinere Firmen Kosten von einer halben Million Euro zu“, weiß Claas Hußmann, Firmenkundenbetreuer der auf die Lebensmitteindustrie spezialisierten BDJ Versicherungsmakler. Ein Rechenbeispiel verdeutlicht die wirtschaftliche Dimension. Bei einem Umsatz von 40 Mio. € wäre das Jahresergebnis von angenommen zwei Prozent mehr als halbiert; den Aufwand für PR, um das Vertrauen bei Kunden und Verbrauchern zurück zu gewinnen, nicht eingerechnet. Ein solcher Ertragseinbruch kann bei dünner Kapitaldecke existenzbedrohend sein; in jedem Fall belastet er das Rating durch Investoren und Kreditgeber und verteuert die Finanzierung.
Immer mehr Rückrufe
Trotz eines intensiven Qualitätsmanagements gibt es immer mehr Produktrückrufe. Die Zahl der behördlichen Lebensmittelwarnungen hat sich zwischen Januar 2011 (25) und August 2014 (107) vervierfacht. Dies ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Die Zahl der Marktentnahmen ohne Verbraucherinformation hat nach Einschätzung der Beratungsgesellschaft AFC Risk & Crisis Consult ebenfalls deutlich zugenommen, da viele Unternehmen aufgrund der Komplexität der Krisenfälle geneigt seien, die betroffenen Produkte frühzeitig vom Markt zu nehmen.
Gefährdungen der Lebensmittelsicherheit haben natürlich eine besondere Spreng-kraft. Hinzu kommen Risiken, denen Unternehmen ohnedies ausgesetzt sind: Feuer, IT-Ausfälle oder Störungen in der Lieferkette. Potenziert werden sie durch die branchenspezifische Komplexität. Wer mehrere Filialisten beliefert, hat es neben einem gigantischen Logistikaufwand mit tausenden verärgerten Kunden zu tun. Und mit Millionen von verunsicherten Verbrauchern. Die Lebensmittel- und Getränkeindustrie hat laut Allianz Risk Barometer 2015 von allen Branchen das höchste Reputationsrisiko.
Risikoanalyse und -bewertung
Umso erstaunlicher ist die mangelhafte Vorbereitung auf Ernstfälle. „Die Unter-nehmen verfügen zwar über ein mehr oder minder gut ausgearbeitetes Krisenmanagementsystem. Dieses bietet allerdings keine Garantie für ein angemessenes Vorgehen im Falle eines Falles“, so AFC-Geschäftsführer Dr. Michael Lendle. Man sei sich zwar der Gefahren bewusst, es fehle aber das Know-how, diese betriebsbezogen zu analysieren und zu bewerten, was Voraussetzung für eine detaillierte Notfallplanung sei. Ist nicht exakt festgelegt, was im Fall eines Falles zu tun ist, bricht erst einmal Hektik aus. Eine solche ist kaum geeignet, den Schaden gering zu halten. Dazu sind die Unternehmen aber verpflichtet, wenn am Ende die Versicherung einspringen soll. „Die Versicherer verstehen sich nicht als Zahlstelle, sondern als Teil eines integrierten Risikomanagements“, betont BDJ-Experte Hußmann die Bedeutung von Präventionsmaßnahmen. Beispielsweise dürfe ein Rückrufplan nicht in den Schubladen verstauben, sondern müsse regelmäßig geübt werden, damit er von der ersten Sekunde an funktioniere.
Keine Frage der Größe
Krisenberater Matthias Hämmerle von Haemmerle-Consulting vergleicht den zu er-stellenden Notfallplan mit einer verständlich formulierten Gebrauchsanweisung. „Man ist mit einer neuen Situation konfrontiert und benötigt eine Anleitung, um Sicherheit zu erhalten.“ Es handele sich um kein alltägliches Arbeitsinstrument. Manche Beteiligte bekämen das Dokument im Notfall zum ersten Mal in die Hand. Sie müssten schnell erkennen, „wie der Hase läuft” und einzelne Schritte auch überspringen oder intuitiv ausführen können. „Ein Risikomanagement lässt sich hinsichtlich Eventualplanung, Personaleinsatz und Equipment auf die Größe und wirtschaftlichen Möglichkeiten eines Unternehmens zuschneiden“, betont Michael Lendle (AFC). Egal, ob diese Anleitungen in einem konzernweit vernetzten Enterprise-Risk-Management-System zur Verfügung stünden oder in stets griffbereiten Leitz-Ordnern. Der Experte beschreibt die systematische Vorgehensweise: Zunächst müsse ermittelt werden, welche Risiken relevant sind. Im nächsten Schritt gelte es, diese Risiken anhand ihrer möglichen Schadenswirkung zu bewerten. Kriterien sind die bis zur Wiederaufnahme des Betriebes erforderlichen Wiederherstellungskosten sowie der Aufwand für die Wiederaufnahme des Geschäftsbetriebes. Der TÜV Süd empfiehlt kleinen und mittleren Unternehmen die neue Version der Norm ISO 9001, die explizit die Bereiche benennt, in denen ein systematisches Risikomanagement erforderlich ist.
Versicherungsschutz anpassen
Eine Risikoanalyse ist in der Regel mit einer Neubewertung des Versicherungsschutzes verbunden. Viele Unternehmen haben es über Jahre versäumt, ihn an die gestiegenen Risikograde anzupassen. Diese resultieren unter anderem aus den inzwischen hochentwickelten Messtechniken, immer niedrigeren Grenzwerten und der Bereitschaft der Behörden zu drastischen Sanktionen. Klassische Rückrufkosten-Haftpflichtversicherungen zum Beispiel decken im Gegensatz zu Produktschutzversicherungen lediglich die Beseitigung und Vernichtung der Produkte und bestimmte Rückrufkosten von Weiterverarbeitern oder des Handels ab, nicht aber den eigenen, womöglich noch viel höheren Schaden. Genauso könnte man Firmenfahrzeuge lediglich haftpflichtversichern in der Hoffnung, sie würden Crashs ohne eigene Schrammen überstehen. Wichtig ist eine objektive, anbieterneutrale Beratung, die sich nicht an Vertriebsinteressen orientiert, sondern vielmehr auf ein Gesamtkonzept aus Risikoschutz und Prävention ausgerichtet ist. Sie schützt – pointiert ausgedrückt – auch vor dem Kleingedruckten in den Policen. Mit Hilfe eines unabhängigen Versicherungsmaklers lassen sich Verträge individuell gestalten; unter anderem können gefährliche Klauseln, zum Beispiel ein Rückrufplan sei im Schadensfall „zu 100 Prozent“ einzuhalten, umgangen werden.
„Notfallmanagement und Versicherung sind zwei Seiten der gleichen Medaille“, betont Claas Hußmann von BDJ Versicherungsmakler. Bei fehlendem Risikomanagement gebe es in der Regel keinen Versicherungsschutz; hohe Standards würden dagegen mit Prämiennachlässen honoriert. Zudem unterstütze die Assekuranz die Planung einschließlich der Beratung durch Spezialisten in der Regel mit 10 Prozent einer Jahresnettoprämie für die Erstberatung und mit 5 Prozent der Folgeprämien.
Der Beitrag erschien im Original in der Zeitschrift „LVT LEBENSMITTEL“.
Risiken gehören zu Geschäft
Interview mit Manfred Godek, Kommunikationsberater und Autor, Monheim am Rhein
In Ihrem Beitrag kommen vor allem Berater zu Wort. Konnten Sie keine Stimmen aus Unternehmen einfangen?
Die Lebensmittelbranche gibt sich sehr zugeknöpft. Unternehmen verweisen auf ein existierendes Risikomanagement, sagen aber nicht, was konkret getan wird. Zu Produkten kann man auf den Webseiten endlos scrollen. Aber nicht dazu, was passiert, wenn Ware kontaminiert oder verdorben ist.
Worin sehen Sie den Grund für die Zurückhaltung?
Es herrscht eine beinahe panische Angst davor, sozusagen mit den eigenen Schwachstellen ertappt zu werden. Dabei kann man unter www.lebensmittelwarunung.de nachlesen, was fast täglich passiert. Risiken gehören zum Geschäft. Sie resultieren aus immer komplexer werdenden Lieferketten und Prozessen. Sie sind systemimmanent und gehören entsprechend thematisiert. Tatsächlich werden sie tabuisiert.
Was kann eine intensivere Öffentlichkeitsarbeit bewirken?
Definitiv mehr Glaubwürdigkeit und Vertrauen. Verarbeiteten Lebensmitteln haftet ohnehin ein schlechter Ruf an. Wenn Bakterien oder Glassplitter hinzukommen, wird der Verbraucher in seiner negativen Haltung bestätigt. Die Unternehmen sollten auf ihren Internetseiten kommunizieren, dass sie Produktrisiken erst nehmen und wie sie mit ihnen umgehen.
Sie schreiben, dass im Ernstfall unprofessionell regiert wird. Welches sind die Ursachen und Folgen?
Betroffene Unternehmen regieren wenig souverän. Es wird abgeblockt, herum laviert und beschönigt. Der Verbraucher fühlt sich verschaukelt. Er hat eine perfide Art entwickelt sich, sich zu rächen, indem er bestimmte Produkte meidet oder von einzelnen Herstellern nicht mehr kauft.
Wie kann Kommunikation auf eine solche Situation professionell eingestellt werden?
Im Gegensatz zu administrativen Prozessen lässt sich Kommunikationsfähigkeit nicht durch Handbücher vermitteln. Bewährt haben sich Trainings, bei denen Notfallszenarien definiert und durchgespielt werden. Dazu gehörten Sprachregelungen gegenüber der Presse und Kommunikation wie Telefonate oder E-Mail-Verkehr mit Vertriebspartnern, Lebensmitteluntersuchungsämtern und Journalisten. Aktion und Redaktion werden professionell ausgewertet und nachjustiert.